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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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einen Augenblick, in dem mir das Gebäude an der Augsburger Straße etwas ersetzte – bei Schichtwechsel, wenn die Fenster desLabors geöffnet wurden, der Pförtner die Zeitung zusammenklappte und zum Telefon griff, wenn das Hin und Her der Arbeiter und Angestellten, fließend wie der Puls von Seegras in einer Meeresströmung, begann und sich die der Pforte zugewandten Gesichter nach und nach mit individuellem Ausdruck füllen würden; es war der Augenblick, in dem die freigelassenen Gerüche die Straße erreichten und mich die sinnliche Form dessen überwältigte, was ich, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, »das menschliche Element« hätte nennen müssen. Auf einer Skala von Hunderten Tönen Grau wirkt der eine Tupfen Rot explosiv, er fällt nicht nur auf, er hinterläßt ein Feuermal auf der Netzhaut; an dieser Stelle wird für immer eine Narbe schmerzen. Wir kannten die Gerüche der Johannstädter Industrien, des Backwarenkombinats, in dem die Arbeiter abends Schüsseln mit Hefe aufstellten, morgens waren sie leer, die Hefe quoll, die Kakerlaken platzten mit durch die Hallen schnalzenden Plopps; wir kannten den Geruch des Fischgeschäfts an der Hertelstraße, der nierenkranken Elbe, der Flure und Küchen in den Wohnblöcken; manchmal, an Frühlingstagen mit geringer Müllabfuhr, waren die Essensdünste ruhig unterspült von Blütenversprechen, die vom Trinitatisfriedhof heranwehten. »Das menschliche Element«: Die Gerüche aus dem Labor der Eg-Gü-Fabrik warfen mich aus der Bahn, ließen mich spüren, daß es etwas anderes gab als meine von Geboten umstellte Welt. Sie erinnerten mich daran (und das war wie die Ohrfeige, die der wache Banknachbar stellvertretend für den träumenden bekommt), indem sie liebevoll in mich einbrachen, daß Dinge und Umgebungen, die wir für selbstverständlich halten, dies nicht zu sein brauchen, und der Schrecken darüber rührte daher, daß dem Ganzen soviel Freiheit beigemischt war. Ich »hatte« diese Gerüche, aber keine Worte dafür. Sie »hatten« mich, und irgendein Laborant da oben meinte es ehrlich. Wie friedfertig konnte ein Geruch sein, wie nahrhaft und erzählerisch, wie großzügig! Niemand würde mir etwas wegnehmen in der Heimat dieses Geruchs, er machte sogar Angebote für die Reise. Auch für sie hatte ich kein Wort. Der kleine Basar war aufgebaut, Ulrike schenkte mir auch die andere Hälfte ihres Brots, ich warf es heimlich beiseite, denn ich wollte jetzt nicht satt sein. Ich kramte den Schuh aus dem Ranzen. Ulrikes Mutter verglich, nickte, drückte mir eine Tube in die Hand. Als ich las, wußte ich, daß die Schuhe meiner Mutter andere Pflege brauchen würden.
    Plötzlich hatte ich viel Zeit. Die wortlosen Gerüche, die mittlerweile eine flüchtige Südsee auf der Straße entfacht hatten, waren nur Vorbereitung für dieses geruchlose Wort gewesen, das sie, die lediglich wirklich waren, bereits zu bewahren begann. Ein Wort, grob auf Metall gedruckt. Das ich wie ein Verurteilter umkreiste, dem ich mich näherte wie ein Insekt dem ungeheuren, rücksichtslosen, auf die Sekunde, in der die geheime in offene Herrschaft übergeht, gelassen wartenden Pheromongestirn; ich hielt die schweißglitschig gewordene Tube aus Angst, ich könnte sie verlieren, so fest, daß die Verschlußkappe wegzuplatzen drohte. Eine Folge von neun Buchstaben verlieh der in einer Kartusche gefangengehaltenen Schuhcreme schreckliche Kraft; ich wagte nicht, auch nur einen Klecks der machtvollen Substanz herauszudrücken und zwischen Daumen und Zeigefinger genüßlich breitzureiben, ich wußte, daß die Farbe an Intensität alles übertreffen würde, was ich bis dahin kennengelernt hatte, es mußte so sein, deshalb sah ich niemals nach, das Wort, der Name dieser Farbe sagte es: Ozeanblau.
13
    Das Gewicht meines Schulranzens spürte ich erst im Hausflur, wenn der Aufzug, der nur in den Zwischengeschossen hielt, wieder einmal defekt war. Mir blieb nichts übrig, als die enggewendelte Treppe hinaufzuklettern, an Filzstiftbotschaften vorbei, wechselnd gemusterten Fußabtretern, die zum Warten und zum Unmut Anlaß gaben: so erklärte ich mir die Zigarettenkippen auf den Stahlnetzen, die etagenweise quer durch den Treppenschacht gespannt waren und aussahen, als warteten sie ebenfalls, auf Körper. Um die Mittagszeit war der Block ein Argus, der schlief. Manchmal, obwohl nichts zu hören war, berührte ich die Türen mit meinen Fingerspitzen – ich lebte in der Vorstellung, daß sie fähig seien,

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