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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Blocks an Sommerabenden auf die Balkone stellten. All die verwirrenden Möglichkeiten, die ein aus der Schule ohne Hausaufgaben entlassener Schüler hat, um an der Welt teilzunehmen, die noch nicht an ihn denkt oder auf ihn zählt, da sein Platz in einem Klassenzimmer zu sein scheint, einem Ort der Vorbereitung, wo doch draußen schon alles von Erwachsenen beschlossen ist – ich spürte, daß dies uns Kindern Vorteile verschaffte, die weniger aus Hochmut oder Nichternstnehmen rührten, sondern aus Vergessen und Zerstreutheit (weswegen, wenn Kinder zum Beispiel Soldaten werden, der Schock besonders wirksam ist); wir konnten, da die Großen ihre Köpfe mit Arbeit, Besorgungen und Zukunftsdeutung voll hatten, so ziemlich tun und lassen, was wir wollten. Ich beschloß, auf Ulrike zu warten, die ich mit den Gefühlsentwürfen eines Neunjährigen bedrängte – ich lockte sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in den Schulkeller, wo ich sie, die meine Absichten allerdings ahnte und im Dunkel aus Jacken und Turnbeuteln auch sofort mit Kratzen beantwortete, ungestört abzuküssen gedachte. Wir gingen zur Augsburger- / Ecke Fiedlerstraße, wo die Eg-Gü-Schuhcremefabrik stand. Ulrikes Mutter arbeitete dort. Ich war noch nicht in dem Bezirk, wo ich die Dinge um mich liebte, dazu wirkten sie auf mich zu präsent, zu wirklich, ich wollte sie weder verteidigen noch immerzu wiedersehen. Wenn wir die langsamen, mit ihren guten und schlechten Anrufungen schwingenden Straßen entlanggingen, fühlten wir uns wie Entdecker, aus einer Seefahrernation in eine Wüste versetzt. (Doch hin und wieder leuchtete eine Königskerze auf einem der Schutthügel.) Arnoldstraße über den Tatzberg am Trinitatisfriedhof vorbei bis zur Fiedlerstraße, du kleiner Engel neben mir, wir könnten zusammen aufwachsen wie Geschwister. Planierraupen und Bagger sind unsere Pferde, traben durch unsere Unkrautprärie, und wer ist (nicht »spielt«) Lederstrumpf, wer Chingachgook, die Große Schlange? Aquarische Helligkeit, gerahmt von Schornsteinen und den drei Schulen mit ihren Marsfeld-Appellplätzen, im Hintergrund, wo die Reisen beginnen, farbgesprenkelte, auf und ab schwankende Geometrien, ein zartes, vonGiacometti-Akteuren mit Füßen getretenes Theater, sommerlich verbrannte Schatten, die unsere nahen, runden zu Fremdkörpern erklären und mir Furcht einjagen: »Gehörte« all das nicht mir? Oder war ich nur hineinversetzt worden mit einem Auftrag: Hier werde groß? Wenn ich die Hand auf eine Wegplatte legte, verriet mir ihre Wärme oder Kühle nichts anderes als ihre Temperatur; ich trug zu sonstigem nichts bei, bewegte mich in einer Art Skaphander, denn die Außenwelt konnte mir, sollte es notwendig sein, mit bestürzender Härte antworten; die Farben, die Helligkeit waren vielleicht nur eine Ablenkung von etwas, das erschlagen konnte. Das Mädchen neben mir summte vor sich hin, hüpfte, während ich wartete, durch die auf den Gehweg gekreideten Himmel-und-Hölle-Quadrate. Meine Brottasche war leer. Ulrike zerriß mit eng nachgreifenden Fingern ihr Butterbrot, so daß die Stücke nahezu gleich groß gerieten, sagte: Wenn du mein Bruder wärst, hättest du nichts bekommen. Außerdem bist du blöd, ich heirate dich nicht. Mutter hatte mir Geld gegeben, Eg-Gü würde einen »Schuhputztag« veranstalten unter den auf Plakate gemalten Motti »Heute wird gewienert« und »Bewunderung ein Schuh erregt, der ständig mit Eg-Gü gepflegt«. Wo, wenn nicht dort, beim einst führenden Hersteller von Schuh- und Lederpflegemitteln in Deutschland, nun des Ostens, würde es mir gelingen, eine passende Tube Schuhcreme für die in der »Gazelle« oder im »Haus der Schuhe« auf der Leipziger Straße erworbenen Pumps meiner Mutter zu finden? Im Schuhgeschäft war die Farbe nicht mehr vorrätig gewesen. Ich dachte an Ulrikes Mutter. Sie würde einen der Stände aufbauen, warten, den Vorüberschlendernden, die am Nachmittag dazu Zeit hatten, säuberlich aufgereihte Muster vorstellen, freundlich stumm, von ihrem angestammten Platz auf einen ihr fremden versetzt; würde, wenn jemand einen Rat wünschte, schüchtern auf Pflegemängel hinweisen und die Vorurteile der Kunden hinsichtlich Qualität und Breite des Eg-Gü-Sortiments zu entkräften versuchen. Einen der Pumps trug ich bei mir. Ich würde anspruchsvoll sein. Wie immer, wenn ich Ulrike zur Fabrik begleitete, hatte ich hochfliegende Hoffnungen, mein Anspruch war, daß sie nicht enttäuscht werden durften. Es gab

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