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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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mit Kugelschreibern, die Kugelschreiber hatten an den naturbelassenen, mit einem Kleeblatt bestempelten Leibern Hühnerköpfe, die auf Federhälsen steckten und beim Schreiben nickten.
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    Über Pirnaischen Platz, Baustellen, Hauptbahnhof, Fritz-Löffler-Straße hinaus, an der Russischen Kirche vorbei, Bergstraße mit Technischer Universität und dem verfallenden Observatorium im Beyer-Bau, die Hochhäuser von Räcknitz am Weg, den ich an Sonntagabenden per Bus vom Leninplatz, zur Erweiterten Oberschule Dippoldiswalde, viele Male fuhr. Südhöhe, Innsbrucker Straße, Bau- und Supermärkte, Gewerbegebiet, der Kaitzgrund zersiedelt, die Straße mit Lärmschutzwänden gedämmt; Bannewitz, an Nöthnitz und Bünaus Schloß vorbei, wo Winckelmann als Bibliothekar wirkte; die Pappeln, an dieich mich erinnere, weil sie die Straße wie römische Kohorten säumten, sind bis auf Reste abgeholzt. Windberg-, früher Ernst-Thälmann-Straße, wo meine Großmutter väterlicherseits lebte, dem Fenster ihrer Wohnküche gegenüber das einsame Haus auf dem Hügel, das wie ein Ort von Verbrechen wirkte und das ich als Kind oft beobachtete, wenn Großmutter am Asch stand, dem ausziehbaren Geschirrspültisch; über mir und dem Sofa ein Bild mit Hirsch am Bach, vor mir »Aus Deutschlands Vogelwelt« und »Aus Wald und Flur«, Alben des »Cigaretten-Bilderdiensts Hamburg-Bahrenfeld«, zwei aus der Handvoll Bücher, die Großmutter besaß. Dorfgasthof Börnchen; geöffnet sonnabends ab 17 Uhr und nach Vereinbarung, ausladende Kastanien, sämtlich von der Miniermotte befallen, die Blätter wirken verrostet, einzelne kleine Früchte sind schon reif. Steile, enge Straße, daneben scharrt ein Bach im Grund. Bagger und altes Landwirtschaftsgerät, an den Garagenmauern hängen Wagenräder, für die es einst den Beruf des Stellmachers gab.

Prohlis 1980

… die Bilder des Malers Querner: Über dem Plattenspieler im elterlichen Wohnzimmer hing eines seiner Alters-Selbstporträts, die strengen Züge prägten sich mir ein, das Gesicht glühte in der Dunkelheit nach, wenn ich einschlafen wollte; der Blick hinter den Brillengläsern schien mich zu durchbohren wie ein Insekt, das in den Kälterauch eines Seziertischs geraten war. Dem Porträt gegenüber hing ein Goethekopf, ein Bronze-Halbrelief, gut getroffen und gemacht, das aus einer Villa an der Goetheallee stammte. Der Direktor des Sächsischen Serumwerks hatte dort gewohnt; mein Großvater war im Serumwerk Prokurist gewesen, über ihn war die Dichterbronze in unser Wohnzimmer gelangt. Vor dem Goethekopf saß ein winziger, aus Gips geformter, goldbemalter Pförtner: der Dresdner Kunst- und Denkmalschutzheros Fritz Löffler, der das Buch »Das alte Dresden« geschrieben und damit das Gründungsdokument der Stadt, ihres sowohl liebenswert-eigensinnigen wie auch manchmal hochnäsigen und selbstzufriedenen Stolzes, vorgelegt hatte – Gründung ist Beginn, und mit der Zerstörung am 13. Februar 1945 beginnt die Aura Dresdens; angesichts der Vorlieben des Stadtgedächtnisses ist das nüchtern gemeint, nicht zynisch. DerGoethe kam gegen den Querner nicht an; Goethe war fern, Querner nah. Osterzgebirge, Land der stillen Farben, in dessen Hungerboden Dresden seine barocken Wurzeln gräbt. Die Bilder hingen in Wohn- und Eßzimmer, über dem Klavier, an dem mein Bruder zum Ticktack des Metronoms übte, der Anrichte mit dem Sonntagsporzellan, dort hörten die Landschaftsaquarelle den Gesprächen zu, die fast immer um Politik, Wirtschaft und Kunst kreisten. Meine Eltern führten eins der gastlichen Häuser, die ich in Dresden oft kennengelernt habe, man lud ein und wurde eingeladen. Mißtrauen und Vorsicht zum Trotz war man offen, fremde Kreise waren zugänglich. An unserem Tisch saßen Handwerker, Eisenbahner, Künstler, Ingenieure, Ärzte, Oppositionelle, mindestens ein Spitzel, ein künftiger Minister, Arme und Reiche. Man besuchte einander, lief mit den neuesten, auf Deutschlandfunk gehörten Nachrichten zu Freunden und Verwandten, die meist in der Nähe wohnten – noch heute erscheint mir das Wort »Das große Wohnzimmer«, das mir unwillkürlich für den Weißen Hirsch meiner Kindheit einfällt, nicht unangemessen. Diese Durchlässigkeit, die bei genauerer Betrachtung freilich immer schon eine für Einheimische war, wie so mancher Zugezogene ernüchtert feststellen muß, ist Zugbrücken und Gräben gewichen; hin und wieder denke ich, daß der scharfblickende Querner auf dem Selbstporträt beim Wort

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