Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
noch?«
|286| Sie ließ sich vor dem kleinen Spiegel auf einen Schemel sinken, stützte den Kopf in die Hände und starrte ihr Ebenbild an. »Er ist in mich verliebt«, sagte sie. »Er ist verrückt nach mir. Ich verbringe meine Zeit damit, ihn abwechselnd nahe heranzulassen und wieder fernzuhalten. Wenn er mit mir tanzt, dann spüre ich seine Härte. Er begehrt mich verzweifelt.«
»Und?«
»Ich muß ihn weiter hinhalten. Wenn er abkühlt oder sich sein Horn woanders abstößt, dann hätte ich eine Rivalin. Deswegen brauche ich dich hier.«
»Sich sein Horn abstößt?«
»Ja.«
»Du wirst ohne mich auskommen müssen«, sagte ich. »Du hast nur noch ein paar Wochen. Onkel meint, daß du dich diesen Sommer mit ihm verlobst, daß im Herbst Hochzeit ist. Ich habe meine Rolle gespielt, ich kann gehen.«
Sie fragte nicht einmal, worin meine Rolle bestanden hatte. Anne hatte schon immer eine recht einseitige Weltsicht gehabt. Es ging ihr stets nur um sich selbst, dann erst um die Boleyns und die Howards.
»Ein paar Wochen länger kann ich es noch schaffen«, sagte sie. »Und dann bekomme ich alles.«
|287| Sommer 1527
Nachdem George Hever verlassen hatte, hörte ich nichts mehr von ihm oder Anne, während der Hof in jenem vollkommenen Sommer durch das Land zog. Es war mir auch gleichgültig. Ich hatte meine Kinder und mein Zuhause. Niemand musterte mich, ob ich etwa blaß oder eifersüchtig wirkte. Niemand flüsterte hinter vorgehaltener Hand, daß ich besser oder schlechter aussähe als meine Schwester. Ich war die ständige Beobachtung los, ich war den ständigen Kampf zwischen König und Königin los. Und das beste: ich war den ständigen Wettbewerb zwischen Anne und mir los.
Meine Kinder waren in einem Alter, in dem der Tag im Nu mit Kleinigkeiten verflog. Wir banden Speck an Schnüre und angelten im Wassergraben. Wir sattelten mein Jagdpferd, und die Kinder wurden abwechselnd im Schritt herumgeführt. Wir machten Ausflüge in den Garten oder in den Obsthain.
Ich schaute meinen Kleinen zu, wie sie sich mit runden Augen in der Kirche hinknieten. Ich betrachtete sie, wenn sie gegen Ende des Tages einschliefen, die Haut rosig von der Sonne. Ich vergaß, daß es überhaupt so etwas wie einen Hof und einen König und Favoritinnen gab.
Dann kam im August ein Brief von Anne. Tom Steven, mein getreuer Pferdeknecht, brachte ihn. »Für Euch, Herrin, persönlich zu übergeben«, sagte er.
»Danke, Tom.«
»Niemand außer Euch hat ihn gesehen«, meinte er.
»Sehr gut.«
»Und niemand außer Euch wird ihn sehen. Ich halte Wache, während Ihr ihn lest, und dann werfe ich ihn für Euch ins Feuer, und wir schauen zu, wie er verbrennt, Mylady.«
|288| Ich lächelte, bekam aber allmählich ein mulmiges Gefühl. »Meiner Schwester geht es doch gut?«
»Wie einem jungen Lamm auf der Wiese.«
Ich erbrach das Siegel und faltete das Papier auf.
Freue Dich für mich, denn es ist vollbracht, und mein Schicksal ist besiegelt. Ich habe es geschafft. Ich werde Königin von England. Heute abend hat er mich gebeten, seine Frau zu werden. Er hat mir versprochen, noch innerhalb dieses Monats frei zu sein, wenn Wolsey Stellvertreter des Papstes wird. Ich habe sofort Onkel und Vater dazugerufen, habe gesagt, ich müßte meine Freude mit meiner Familie teilen. Es gibt also Zeugen, und er kann nicht mehr zurück. Ich habe einen Ring von ihm bekommen, den ich im Augenblick noch nicht öffentlich tragen darf, aber es ist ein Verlobungsring. Er hat geschworen, mir anzugehören. Ich habe das Unmögliche geschafft: den König eingefangen und das Schicksal der Königin besiegelt. Ich habe die alte Ordnung auf den Kopf gestellt. Nichts wird in diesem Land für eine Frau je wieder so sein wie früher.
Die Hochzeit soll stattfinden, sobald Wolsey die Nachricht schickt, daß die Ehe annulliert ist. Die Königin wird an unserem Hochzeitstag davon erfahren, keine Stunde früher. Sie soll in ein Kloster in Spanien gehen. Ich möchte sie nicht in meinem Land haben.
Du kannst Dich für mich und die Familie freuen. Ich werde es Dir nicht vergessen, daß Du mir geholfen hast. Du wirst sehen, daß Du eine treue Freundin und Schwester hast in Deiner Anne, Königin von England.
Ich ließ den Brief auf den Schoß sinken und blickte in die Glut des Feuers. Tom trat einen Schritt vor.
»Soll ich ihn jetzt verbrennen?«
»Laßt mich ihn noch einmal lesen«, erwiderte ich.
Er zog sich zurück, doch ich schaute ihr aufgeregtes Gekrakel nicht
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