Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
entzückte ihn die List des Hirschs sehr.
»Lauf los!« schrie er hinter ihm her. »Ich muß nicht ausgerechnet dich braten lassen! Ich habe eine ganze Vorratskammer voller Wild!«
Um uns herum lachten alle, als hätte er einen wunderbaren Witz gemacht. Ich begriff, daß sie befürchtet hatten, der Mißerfolg bei der Jagd könne die königliche Laune trüben. Als ich von einem strahlend glücklichen Gesicht zum anderen blickte, schoß es mir durch den Kopf, wie töricht wir doch alle waren, daß wir die schwankenden Stimmungen dieses einen Mannes zum Mittelpunkt unseres Lebens werden ließen. Doch dann lächelte er mir zu, und ich wußte, daß zumindest ich keine andere Wahl hatte.
Er bemerkte mein schlammbespritztes Gesicht und mein offen hängendes, wirres Haar. »Ihr seht aus wie ein Mädchen, das so recht fürs Landleben geschaffen ist«, meinte er, und jedermann konnte die Begierde in seiner Stimme hören.
Ich zog meinen Handschuh aus und führte die Hand an den Kopf, zwirbelte ohne große Wirkung eine Haarsträhne und versuchte sie zurückzustecken. Ich quittierte seine Bemerkung mit einem schiefen kleinen Lächeln, ging aber weiter nicht darauf ein.
»Ach, still«, befahl ich ihm leise. Hinter seinem begehrlichen Gesicht bemerkte ich Jane Parker, die plötzlich schluckte, als hätte sie eine Schmeißfliege heruntergewürgt. Sie hatte nun wohl endlich begriffen, daß man sich in der Nähe von uns Boleyns besser zusammenreißen sollte.
Henry stieg vom Pferd, warf seinem Reitknecht die Zügel zu und kam zum Kopf meines Pferdes. »Wollt Ihr zu mir herunter?« fragte er, und seine Stimme klang warm und einladend.
Ich hakte mein Knie frei und ließ mich an der Flanke meines Pferdes herab in seine Arme gleiten. Er fing mich auf und stellte mich auf die Füße, ließ mich aber nicht los. Vor dem versammelten Hofstaat küßte er mich erst auf die eine und dann auf die andere Wange. »Ihr seid die Königin der Jagd.«
|98| »Wir sollten sie mit Blumen bekrönen«, schlug Anne vor. »Ja!« Henry war entzückt, und wenige Augenblicke später flocht der Hof Girlanden aus Geißblattranken, und mir wurde eine betörend nach Honig duftende Krone auf das wirre blonde Haar gedrückt.
Die Wagen mit den Gerätschaften und Speisen für das Essen kamen, und es wurde ein kleines Zelt für fünfzig Speisende, die Günstlinge des Königs, aufgeschlagen. Für die restliche Gesellschaft stellte man Stühle und Bänke bereit. Als die Königin auf ihrem bedächtigen Zelter langsam angeritten kam, sah sie mich mit Sommerblumen gekrönt zur Linken des Königs sitzen.
Im folgenden Monat erklärte England Frankreich endlich förmlich den Krieg. Carlos, der König von Spanien, zielte mit seinem Heer auf das Herz Frankreichs, während die mit ihm verbündete englische Armee von der englischen Festung Calais aus in südliche Richtung auf Paris zumarschierte.
In ängstlicher Erwartung der Neuigkeiten aus Frankreich verharrte der Hof zunächst in der Nähe der Hauptstadt. Doch dann hielt mit dem Sommer auch die Pest in London ihren Einzug. Henry, der schon immer panische Angst vor Krankheiten gehabt hatte, befahl, unverzüglich die sommerliche Staatsreise zu beginnen. Wir zogen nicht nach Hampton Court, wir flohen dorthin. Auf Anordnung des Königs durften alle Speisen nur aus dem unmittelbaren Umland kommen, nicht aus London. Er verbot Händlern und Handwerkern, dem Hof aus den ungesunden Sümpfen Londons aufs Land zu folgen. Der makellose Palast am sauberen Wasser mußte von allen Krankheiten abgeschirmt bleiben.
Aus Frankreich erreichten uns gute Nachrichten, aus der Hauptstadt sehr schlechte. Kardinal Wolsey richtete es so ein, daß der Hofstaat nach Süden und dann nach Westen zog, dabei unterwegs in Herrenhäusern Station machte und dort mit Maskenspielen und Banketten, Jagd, Picknicks und Turnieren zerstreut wurde. Wie ein kleiner Junge ließ sich Henry nur allzu leicht von der ständig wechselnde Szenerie ablenken. Jeder |99| Höfling, der am Weg wohnte, hatte den König zu beherbergen, als wäre dies seine größte Freude und nicht die am meisten gefürchtete Aufgabe. Die Königin zog mit dem König durch das Reich, ritt an seiner Seite durch die herrliche Landschaft, reiste zuweilen in einer Sänfte, als sei sie müde. Obwohl Henry manchmal in der Nacht nach mir schickte, war er doch tagsüber so aufmerksam und liebevoll wie möglich zu ihr. Ihr Neffe war der einzige Verbündete, den die englische Armee in Europa hatte,
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