Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
nur im Traum daran denken, einem solchen König ein Leid anzutun? Doch sie hielten die drängenden Volksmassen zurück, die sich zusammenfanden, um dem König zuzujubeln und ihn anzustarren, wann immer wir durch ein Dorf oder eine kleine Stadt ritten.
Nach einigem weiteren Abstand kam das Gefolge der Königin. Sie saß auf ihrem getreuen Zelter, hielt sich aufrecht im Sattel, das Gewand unelegant in dicken Falten drapiert, den Hut schief auf dem Kopf, die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammengekniffen. Sie fühlte sich nicht wohl. Ich wußte es, denn ich hatte neben ihr gestanden, als sie am Morgen aufs Pferd stieg, und hatte den winzigen Schmerzenslaut gehört, als sie sich im Sattel niederließ.
Hinter dem Hofstaat der Königin folgten die anderen Mitglieder des Haushaltes, manche zu Pferd, andere auf Karren. Manche sangen oder tranken Ale, um sich den Staub der Straße aus den Kehlen zu spülen. Alle verspürten wir die sorglose Freude eines Festtages, wenn der Hof Greenwich verließ und nach London zog, wo uns Festlichkeiten und Unterhaltung |129| erwarteten. Wer wußte, was dieses Jahr alles geschehen würde?
Die Gemächer der Königin in York Place waren klein und wohlgeordnet. Wir hatten schon nach kurzer Zeit alles ausgepackt und hergerichtet. Jeden Morgen kam der König zu Besuch, wie immer. Sein Gefolge begleitete ihn, Lord Henry Percy war stets dabei. Seine Lordschaft und Anne gewöhnten es sich an, zusammen am Fenster zu sitzen, die Köpfe dicht beieinander, während sie an einem von Lord Henrys Gedichten arbeiteten. Mit Annes Unterweisung, schwor er, würde er sich zu einem großartigen Dichter mausern. Sie beteuerte dagegen, er würde nie etwas lernen, es sei alles nur eine List, um ihr die Zeit zu stehlen.
Ich hielt es für reichlich vermessen, daß ein Boleyn-Mädchen von einer kleinen Burg in Kent den Sohn des Herzogs von Northumberland einen Narren schalt, doch Henry Percy lachte darüber und behauptete, sie sei eine zu strenge Lehrmeisterin, und sein Talent, sein großes Talent, würde sich schon zeigen, was immer sie auch sage.
»Der Kardinal fragt nach Euch«, teilte ich Lord Henry mit. Er erhob sich ohne übermäßige Eile, küßte Anne zum Abschied die Hand und begab sich zu Kardinal Wolsey. Anne sammelte die Blätter zusammen, an denen sie gearbeitet hatten, und verschloß sie in ihrem Schreibpult.
»Hat er wirklich keine Begabung zum Dichter?« fragte ich.
Sie zuckte lächelnd die Achseln. »Ein Wyatt ist er nicht.«
»Aber ist er ein Wyatt in der Liebeswerbung?«
»Er ist nicht verheiratet«, antwortete sie. »Und also für jede vernünftige Frau begehrenswert.«
»Zu hoch gezielt, sogar für dich.«
»Ich sehe nicht ein, warum. Wenn ich ihn will und er mich.«
»Versuche einmal, Vater darum zu bitten, mit dem Herzog zu reden«, empfahl ich sarkastisch. »Warte ab, was der Herzog dazu sagt.«
Sie schaute aus dem Fenster. Der wunderschöne Rasen von York Place erstreckte sich vor uns, verbarg beinahe das |130| Glitzern des Flusses am Ende des Gartens. »Ich bitte Vater nicht darum«, meinte sie. »Ich gedenke die Angelegenheit selbst zu erledigen.«
Erst wollte ich lachen, aber dann wurde mir klar, daß sie es ernst meinte. »Anne, das kannst du nicht allein erledigen. Er ist noch jung, und auch du bist erst siebzehn. Du kannst derlei nicht selbst entscheiden. Sein Vater hat gewiß schon eine Frau für ihn ausgewählt, und Vater und Onkel haben bestimmt auch für dich schon Pläne geschmiedet. Wir sind keine freien Menschen, wir sind Boleyn-Mädchen. Wir müssen uns leiten lassen, wir müssen tun, was man uns sagt. Sieh doch mich an!«
»Ja, sieh doch dich an!« brauste sie auf. »Verheiratet, als du noch ein Kind warst, und jetzt Mätresse des Königs. Halb so gescheit wie ich! Halb so gebildet! Aber du bist der Mittelpunkt des Hofes, und ich bin ein Nichts. Ich muß dir als Hofdame dienen. Ich kann es nicht, Mary. Es beleidigt mich.«
»Ich habe dich nie gebeten …«, stammelte ich.
»Wer muß denn darauf bestehen, daß du badest und dir das Haar wäschst?« fragte sie wütend.
»Du, aber ich …«
»Wer hilft dir bei der Auswahl deiner Kleider, wer flüstert dir ein, was du dem König sagen sollst? Wer hat dich Tausende von Malen gerettet, wenn du keinen Ton herausgebracht hast, wenn du keine Ahnung hattest, wie du ihn behandeln solltest?«
»Du, aber Anne …«
»Und was springt für mich dabei heraus? Ich habe keinen Ehemann, dem der König zum Beweis
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