Die Schwester der Nonne
sie an. Es besaß ein langes Gesicht, gelbe Augen und gebogene Hörner. Es stieß meckernde Laute aus und nickte mit dem Kopf.
»Die Ziege!« Der Schrei aus Katharinas Kehle erreichte das Tier, und es kam ihr einige Schritte entgegen. »Die Ziege! Die Ziege!«
Noch nie hatte der Anblick einer Ziege sie so erleichtert und erfreut. Maria hatte ihr ein Zeichen gesandt. Überglücklich schlang sie die Arme um das Tier und drückte ihr feuchtes Gesicht in das warme weiche Fell an ihrem Hals.
»Gute Ziege, brave Ziege, du hast mir das Leben gerettet.«
Die Ziege meckerte und hatte wohl verstanden. Beide liefen sie über die Brücke. Die Tür der Hütte stand offen. Es duftete nach gebratenem Fisch und Wärme schlug ihnen vom Kamin her entgegen. Halb ohnmächtig fiel sie der alten Griseldis in die Arme. Durch die Nacht drang der zwölfte Glockenschlag des Kirchspiels auf der anderen Seite der Aue.
Es war der Tag, an dem der erste Schnee fiel. Am Morgen bedeckte Reif die Aue. An allen Ästen und Zweigen, an Bäumen, Büschen und dem trockenen Gras hatten sich weiße Eisnadeln gebildet. Katharina erinnerten die weißen Stacheln an die Dornenkrone des Heilands, und sie befiel eine tiefe Traurigkeit. Die Welt starb. Es gab viel weniger Tiere im Wald, und selbst die Flüsse und Bäche gurgelten nicht mehr so munter wie vorher.
Der Atem dampfte, als sie vor die Hütte trat. Der Himmel war bleigrau und hing tief wie ein schmutziger Baldachin. Inzwischen kannte sie die Wege durch den Wald viel besser. Auch schien der Wald viel lichter, seit er vom bunten Laub befreit war. Sie führte die Ziege zur Wiese in der Hoffnung, dort noch ein paar Grashalme zu finden. Der nächtliche Frost hatte die meisten Kräuter zerstört. Nun würde eine schlimme Zeit anbrechen, und die Not würde groß sein. Die Ziege gab keine Milch mehr, und in Griseldis’ Hütte fand sich kaum noch etwas Nahrhaftes.
Der Gedanke an einen langen kalten Winter im Wald ließ Katharina erschauern. Weder besaß sie entsprechende Kleidung noch Geld. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht, als sie überstürzt davongelaufen war. Vielleicht würde der Vater nicht mehr zürnen, wenn sie reumütig zurückkam. Und vielleicht bestand er nicht mehr darauf, dass sie den alten Eckhardt heiraten sollte. Vielleicht würde sich alles zum Guten wenden, und sie konnte wieder zurückkehren in ihr Vaterhaus, ihr Zimmer, ihr Bett …
Die Ziege hob den Kopf, hielt die Nase in den Wind und meckerte aufgeregt. Katharina sah eine Gestalt über die Wiese stapfen. Es war Thomas.
Sie eilte ihm entgegen, und er breitete erfreut die Arme aus.
»Katharina! Du bist wieder richtig gesund.«
»Wie du siehst«, lachte sie.
Er wirbelte sie im Kreis herum, und sie schrie und kreischte vor Freude auf.
»Lass das, mir wird doch ganz schwindelig.«
»Du bist viel zu dünn gekleidet«, stellte er besorgt fest, nachdem er sie wieder auf ihre Füße gestellt hatte. »Du wirst wieder krank werden. Ich habe dir einen wollenen Mantel mitgebracht. Er stammt von meiner Schwester.«
»Aber dann wird deine Schwester frieren.«
»Nein, nein, die wird von ihrem Galan gewärmt.«
Thomas grinste.
Katharina wurde plötzlich wieder ernst. Sie warf einen prüfenden Blick zur Hütte, aber die Tür war geschlossen. Griseldis hatte sich hingelegt. Die bittere Kälte tat ihren alten Knochen auch nicht gut.
»Hör mal, Thomas, ich kann nicht über den Winter hier bleiben. Ich falle der alten Griseldis nur zur Last. Sie ist selbst krank. Außerdem ist kaum noch etwas zu essen da. Wie soll es da über den Winter weitergehen? Erzähl mir, wie es in der Stadt aussieht. Vielleicht kann ich zu meinem Vater zurückkehren.«
Auch Thomas’ Miene wurde nun ernst. Er kratzte sich verlegen hinterm Ohr und verschob dabei seine Filzkappe. Dann setzte er sich auf einen umgestürzten Baumstamm, der am Rand der Wiese lag.
»Tja, also … seit Allerheiligen sind Vater und ich in die Stadt zurückgekehrt. Die Kühe fanden kein Futter mehr auf den Wiesen, und es wurde ziemlich kalt.«
»Das weiß ich doch«, erwiderte Katharina ungeduldig. »Wie ist die Stimmung in der Stadt? Hast du etwas von meinem Vater gehört?«
Thomas rang mit sich. Wie sollte er es Katharina erklären?
»Weißt du, du könntest bei uns wohnen. Es ist zwar etwas eng, weil meine Geschwister noch da sind. Außer meiner Schwester, die schon bei den Eltern ihres Verlobten wohnt. Du weißt, mein Vater mag dich sehr gern, auch meine Mutter hätte nichts
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