Die Schwester der Nonne
Unterricht vertiefte sich Maria häufig in eine Lektüre, zumeist die Bibel oder ein antikes Werk auf Latein oder Griechisch oder schrieb Gedichte auf helle Papierblätter, die Hieronymus ihr geschenkt hatte, während Katharina häufig spurlos verschwand. Da sie jedes Mal pünktlich zum Abendessen wieder da war und stets eine passende Erklärung parat hatte, schien es Hieronymus nicht zu stören.
Doch die Amme störte es gewaltig. Dass sie früher als Kinder gemeinsam in die Aue zum Blumenpflücken oder Pilzesammeln gegangen waren, Honig bei den Imkern kauften oder ihren Spielfreund Thomas am Kuhturm besuchten, das war noch zu akzeptieren. Aber natürlich war es der Amme nicht entgangen, dass sich die Körperformen der Mädchen rundeten und sie das kindliche Aussehen verloren. Selbst der Studiosus machte Stielaugen wie eine Schnecke, wenn er den Mädchen nahe kam. Und nach dem Unterricht verschwand Katharina regelmäßig zu Studien in der freien Natur, wie sie beteuerte.
Zu gerne wäre die Amme ihr hinterhergegangen, um sich selbst vom Wesen dieser Studien zu überzeugen. Leider war das nicht möglich. Ihre Körperformen waren derart auffällig, dass sie sich nirgendwo verstecken konnte. Selbst die alten Eichenbäume in der Aue mit ihren mächtigen Stämmen reichten kaum aus, sie zu verbergen.
So begnügte sie sich damit, Hieronymus in den Ohren zu liegen, dass er ein wachsameres Auge auf seine Töchter, vornehmlich Katharina, haben möge. Doch eigentlich war das ihre Aufgabe, und Hieronymus wies sie nach jeder ihrer Klagen darauf hin. Wenn er überhaupt zu einer Antwort kam und nicht schon wieder unzüchtige Spiele mit Philomena trieb.
»Sodom und Gomorrha«, murmelte sie und bekreuzigte sich zur Vorsicht noch einmal. Dann warf sie einen Umhang über die runden Schultern und verließ das Haus. Sie wollte ohnehin Krebse kaufen, weil Walburga in der letzten Zeit schlecht auf den Beinen und ihr jeder Weg hinunter zum Fluss zu viel war. Das lieferte der Amme einen Grund, nach Katharina Ausschau zu halten.
Sie begab sich vom Markt aus hinunter zum Thomaskloster, wo es eine kleine Pforte in der Stadtmauer gab, durch die sie die Stadt verlassen konnte. Eine Brücke führte über den Stadtgraben zur vorgelagerten Schanze und von dort über den Mühlgraben zur Thomasmühle. Dieser künstlich angelegte Graben wurde vom Wasser der Pleiße gespeist.
Entlang des Grabens reihten sich mehrere Mühlen, von denen die Thomasmühle die nächste war und zum Kloster gehörte. Augustinermönche versahen dort schweigend ihre Arbeit. Es gab auch Klosterangestellte, die nicht zum Klerus gehörten und für die niederen Arbeiten zuständig waren. Gerade wurde die Roggenernte von den klostereigenen Ländereien gemahlen. Wagen um Wagen mit Säcken voller Getreide rollte heran.
Andere Wagen, die auf dem Weg unterwegs waren, hatte Baumaterial geladen, das zur Thomaskirche gekarrt wurde, wo schon seit Jahren das Langschiff umgebaut wurde. Aus diesem Grund war sogar die Stadtmauer um mehrere Meter versetzt worden.
Am westlichen Ufer des Mühlgrabens boten einige halbwüchsige Jungen gefangene Krebse feil, die sie in Weidenkörben hielten. Die Amme begutachtete kritisch die Tiere, die sich mühsam bewegten. Ihr Interesse machte die Jungen ebenfalls aufmerksam.
»Ein bisschen klein, aber für eine Mahlzeit werden sie schon reichen«, meinte sie entgegenkommend. Sie blinzelte dem Jungen zu. »Sag mal, hast du eine junge Dame vorbeikommen sehen? Sie hat langes honigblondes Haar, in feinsten Locken gekringelt und trägt ein prachtvolles Kleid aus blauem Tuch mit teuren Bändern.«
»Oh ja«, erwiderte der, während die beiden anderen Jungen neugierig näher kamen. »Da drüben ist sie.«
Er wies zu den Mönchen hinüber, die an der Mühle arbeiteten.
Die Amme kniff ihre kurzsichtigen Augen zusammen.
»Ich sehe nur dunkle Kittel«, schnaufte sie.
»Aber schaut nur einmal darunter, verehrte Frau. Da findet Ihr feinste Kringellöckchen und teure Bänder. Und vielleicht fährt Euch auch ein Wind ins Gesicht.« Die Jungen lachten lauthals und fuhren eilends auseinander, als die Amme empört um sich schlug.
»Ihr elenden Tagediebe, ihr Brut einer schleimigen Nixe, euch werd ich’s zeigen, eine alte Frau zu ärgern.« Ihre kurzen dicken Arme wirbelten durch die Luft, ohne ein Ziel zu treffen.
Die Jungen machten sich einen Spaß und stolzierten wie eine feine Dame umher, zeigten rabenschwarze, zerkratzte Beine, die aus den abgerissenen Hosen
Weitere Kostenlose Bücher