Die Schwestern von Sherwood: Roman
sie Ja gesagt. Doch nun merkte er ihrem ganzen Verhalten an, dass sie das keineswegs verstand. Es störte Edward nicht, dass die Sherwoods sich mit ihrem Geld den Aufstieg in eine höhere Gesellschaftsklasse erkauften. Es war nur fair, denn schließlich bewahrten sie seine Familie damit vor dem Ruin.
Nein, was ihm Unbehagen bereitete, war die Tatsache, dass Cathleen in dieser Vermählung nicht das erkannte, was es war – ein reines Geschäft.
Er hatte ihr den Arm gereicht, und sie folgten ihren Eltern in die Bibliothek. Der Raum war größer als erwartet. Glatt polierte Regale aus edlem Holz schmückten ihn, die bis unter die Decke mit Büchern gefüllt waren. Er nahm nicht an, dass Mr oder Mrs Sherwood auch nur eines davon gelesen hatten. Seine Augen wanderten zu einem Gemälde, das an der einzigen freien Wand hing. Es zeigte die Sherwoods in jüngeren Jahren und zwei kleine Mädchen, das eine dunkelhaarig, das andere blond.
Cathleen hatte seinen Blick bemerkt. »Das sind meine Schwester Amalia und ich … Ach, da ist sie ja auch«, sagte sie in diesem Moment und wandte sich zur Tür um, in der die Gestalt einer jungen Frau aufgetaucht war, auf die sie sofort zuging. Sie standen noch alle, und seine Mutter und Rebecca verdeckten die Sicht auf Cathleens Schwester, doch er sah sofort das blonde Haar. Er hätte es überall wiedererkannt. Alles in ihm erstarrte.
»Das ist meine Schwester Amalia!« Cathleen drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihnen.
Sein Verstand weigerte sich, die Wirklichkeit anzuerkennen. Als Junge war er einmal vom Pferd gestürzt und hatte sich schwer verletzt. Während er schmerzverzerrt auf dem Rasen des elterlichen Parks lag und auf Hilfe wartete, hatte er die Geschehnisse um sich herum mit so deutlicher Klarheit wahrgenommen, dass er sich bis heute an jede Einzelheit erinnerte. Genauso ging es ihm in diesem Moment. Seltsamerweise bemerkte er als Erstes das angespannte Gesicht von Mrs Sherwood, und ihm schoss dabei die Frage durch den Kopf, warum nicht sie ihre Tochter vorstellte.
Von irgendwo weit her hörte er dann Cathleens Stimme. »Meine Schwester kann leider seit einer Krankheit nicht mehr hören, aber sie kann das meiste von den Lippen lesen … Das ist Lady Hampton, Amalia.«
» Und sie spricht auch nicht? « , fragte jemand.
Da drehte sie sich plötzlich in seine Richtung, als hätte sie seine Gegenwart gespürt. Ein höfliches Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie trug ein Kleid aus blauer Seide, wie für sie gemacht. Nie war sie ihm so schön vorgekommen. Amalia! Der Name passte wundervoll zu ihr. Wie hatte er nur so blind sein und die Wahrheit nicht erkennen können? Ein Teil von ihm hatte das Gefühl, in bodenlose Tiefe zu stürzen. Wut stieg in ihm auf, dass sie ihm nicht gesagt hatte, wer sie war, während er gleichzeitig das Bedürfnis verspürte, sie zu schützen, sie aus diesem Raum zu bringen.
In diesem Augenblick sah sie ihn an – und ihr Lächeln erstarb. Verwirrung und Verständnislosigkeit spiegelten sich in ihren Augen, bis sie schließlich begriff und ein Ausdruck blanken Entsetzens ihr Gesicht überzog. Sie wurde leichenblass, und ein schrecklicher Laut entrang sich ihrem schönen Mund – unartikuliert und beinahe unmenschlich, wie der gequälte Aufschrei eines Tieres.
Erschrocken blickten sie alle an. Er wollte einen Schritt auf sie zugehen, doch da hatte sie sich schon auf dem Absatz umgedreht und rannte mit gerafftem Rock aus der Bibliothek. Es kostete ihn übermenschliche Beherrschung, ihr nicht hinterherzulaufen. Er bekam mit, dass Cathleen denselben Impuls hatte und von ihrer Mutter daran gehindert wurde, die sie mit eisernem Griff zurückhielt. Sie wirkte zutiefst besorgt, und Edward sah sie wieder vor sich, wie sie eben auf ihre Schwester zugegangen war, wie sie Amalia vorgestellt hatte. Er entsann sich der kurzen vertrauten Gesten zwischen den Schwestern – eine ungewöhnliche Verbundenheit hatte sich darin gespiegelt –, und erst jetzt begann er, das ganze Ausmaß des Dramas zu begreifen. Ihm wurde übel.
»Ich muss Sie wirklich bitten, das Verhalten von Amalia zu entschuldigen. Ich habe keine Ahnung, was in sie gefahren ist«, erklang Mrs Sherwoods Stimme hinter ihm.
73
A malia hatte ihren Umhang gegriffen und war nach draußen gelaufen. Der üppige Volant ihres Seidenkleids schlug gegen ihre Beine.
Sie rannte, so schnell sie konnte – noch immer unter Schock. Ein feiner Nebel lag in der Luft, und die Feuchtigkeit, die ihr
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