Die Schwestern von Sherwood: Roman
weshalb sich eine junge Frau, die in der Gegend aufgewachsen war und die die Tücken und Gefahren des Moors sehr wohl gekannt haben musste, bei diesem Unwetter nach draußen gewagt haben soll …
Der Journalist stellte die richtige Frage, dachte Melinda, denn wie sie jetzt wusste, stimmte es nicht, dass sie umgekommen war – Amalia war gut anderthalb Jahre später unter dem Namen Helene Griffith nach Berlin gegangen. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Das Einzige, was Melinda wusste, war, dass ihre Großmutter 1896 schwanger geworden war. Doch von wem? Der Name des Vaters war nicht im Familienstammbuch eingetragen gewesen, und auch Melindas Mutter hatte ihn nie erwähnt. War er damals wirklich gestorben, oder hatte ihre Großmutter England vielleicht verlassen, weil sie vor diesem Mann geflohen war? Sie erinnerte sich an eine Zeile aus den Briefen, die sie in der Korrespondenz bei der alten Mrs Finkenstein gelesen hatte: »Die Erlebnisse, die hinter ihr liegen, sind traumatischer Natur …« Melinda fröstelte plötzlich. Interessanterweise schien auch Sandfort zu der Erkenntnis gekommen zu sein, dass ihre Großmutter damals nicht im Moor verunglückt war. Ein Absatz im zweiten Artikel deutete es zumindest an. Es war nur ein einziger Satz, dessen Inhalt Melinda beim ersten Lesen wegen seiner etwas umständlichen Formulierung entgangen war. Aufgewühlt las sie ihn jetzt:
Eine Reihe von Hinweisen lassen jedoch durchaus die Vermutung zu, dass Amalia Sherwood nicht, wie behauptet, bei dem Sturm im Moor umgekommen ist …
Leider führte Sandfort nicht näher aus, was genau er damit meinte. Melinda wünschte inständig, sie hätte gewusst, von welchen Hinweisen er sprach. Der Artikel war kurz nach Cathleen Hamptons Tod geschrieben worden. Vermutlich war dies das Äußerste gewesen, was der Journalist damals wagen konnte. Sie verzog den Mund, als sie unwillkürlich daran denken musste, welche Konsequenzen ihre eigenen Nachforschungen über fünfzig Jahre später noch nach sich zogen. Sie war von dem Neffen von Lord Hampton, Henry Tennyson, bedroht und sogar körperlich angegriffen worden …
Melinda erstarrte. Plötzlich begriff sie: Tennyson wusste, dass Amalia Sherwood ihre Großmutter war! Natürlich! Deshalb wollte er mit allen Mitteln verhindern, dass sie Fragen stellte oder irgendetwas über die Vergangenheit herausfand. Aber was war so schlimm daran? Fürchtete er, dass sie irgendwelche Ansprüche stellen könnte? Derlei lag nicht im Entferntesten in ihrer Absicht. Wie auch? Sie hatte ja bisher gar nicht gewusst, dass Amalia Sherwood ihre Großmutter war, und auch jetzt interessierte Melinda nur, was damals wirklich geschehen war. Sie merkte, wie eine zunehmende Wut auf Henry Tennyson in ihr hochstieg.
Angriff war die beste Verteidigung, schoss es ihr durch den Kopf. Sie würde mit ihm sprechen – persönlich.
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D as Anwesen der Hamptons war beeindruckend – man konnte es nicht anders sagen. Melinda, die sich von Mr Benson bis Moretonhampstead hatte mitnehmen lassen und die letzten beiden Meilen zu Fuß gegangen war, konnte das alte Manor schon von Weitem sehen. Es lag auf einer Anhöhe und kam ihr mit seinen Ecktürmen eher wie ein Schloss als ein Herrenhaus vor. Das Tor zu der Allee stand, einer Einladung gleich, weit geöffnet. Einen Augenblick zögerte sie. War es nicht leichtsinnig, diesen Mann persönlich aufzusuchen? Doch Melinda war sich sicher, dass Tennyson niemals am helllichten Tag auf seinem eigenen Anwesen etwas gegen sie unternehmen würde. Er war arrogant und gefährlich, aber ganz sicher nicht dumm. Zudem lebte er mit seiner Schwester und seiner Tante zusammen, und es war davon auszugehen, dass in einem solchen Haus auch beständig ein Heer von Dienstboten zugegen war. Nein, es würde sie vermutlich eher schützen, wenn man sie bei ihm gesehen hatte, dachte sie, und es würde ihr eine Freude sein, ihm ins Gesicht zu sagen, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern ließ!
Sie lief entschlossen die Allee hoch und hatte das Herrenhaus fast erreicht, als sie sah, dass in dem Vorgarten an einem kleinen Brunnen eine alte Dame im Rollstuhl in der Sonne saß. Sie hatte eine wärmende Decke über die Knie gelegt. Eine Pflegerin stand neben ihr und bemühte sich, ihr einen Chiffonschal um den Hals zu binden. Ein unerwarteter Windstoß riss ihn ihr aus den Händen.
Das Tuch flatterte durch die Luft und direkt auf Melinda zu. Geistesgegenwärtig griff sie danach, nahm es an sich und ging zu
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