Die Schwestern von Sherwood: Roman
sich im Büro der Bensons befand. Die Stimme eines Butlers meldete sich am anderen Ende.
»Hier spricht Miss Leewald. Ich weiß, dass es noch etwas früh ist, aber ich würde gern Mrs Finkenstein sprechen.«
Er bat sie, kurz zu warten. Dann ertönte ein Knacken in der Leitung, und Mrs Finkenstein meldete sich.
»Miss Leewald? Endlich! Ich habe schon zweimal versucht, Sie zu erreichen. Es gibt Neuigkeiten, die Sie interessieren werden.«
»Haben Sie etwas über meine Großmutter in Erfahrung bringen können?«, unterbrach Melinda sie, die ihre Aufregung kaum im Zaum halten konnte.
»Ja. Ich weiß tatsächlich, wie ihr richtiger Name war, das heißt, ihr Vorname«, berichtete Mrs Finkenstein.
»Dann gab es jemand in der Gehörlosengemeinschaft, der ihn noch kannte?«
»Nein, es war nicht notwendig, in diese Richtung nachzuforschen. Jemand anderes wusste ihn – mein Bruder Jacob.«
Ungläubig hörte Melinda, was die Bankdirektorin ihr erzählte. »Jacob hatte Ihre Großmutter kurz vor ihrem Tod gebeten, ihm ihren wahren Namen zu nennen, denn sie war ihm so nahe wie eine Mutter gewesen, und er verdankte ihr sehr viel. Es war ohne Frage ein besonderer Vertrauensbeweis ihm gegenüber, dass Ihre Großmutter seiner Bitte nachgekommen ist«, sagte Mrs Finkenstein.
»Und wie hieß sie nun?«, rutschte es Melinda ungeduldig heraus.
»Ihr Name war Amalia.«
Melinda griff nach der Tischkante vor sich. Ungläubig sank sie auf den kleinen Hocker neben dem Telefon.
»Wie bitte?«
»Amalia!«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, mein Bruder hat keinen Zweifel, dass es der Wahrheit entspricht. Jacob würde Sie übrigens gern kennenlernen. Er kommt nächste Woche zu Besuch nach London. Sagt Ihnen der Name Amalia etwas?«, fragte Mrs Finkenstein.
»Ja, ich glaube«, bestätigte Melinda tonlos. Sie sah den Zeitungsartikel vor sich, den sie in dem Buch ihrer Großmutter gefunden hatte. Der Name Amalia war kein häufiger Name in England gewesen. Es konnte kein Zufall sein.
»Ich bin bei meinen Recherchen mehrmals auf eine Amalia Sherwood gestoßen«, erklärte Melinda.
»Sherwood? Ich entsinne mich, dass Sie den Namen erwähnten. Und was haben Sie über diese Amalia Sherwood herausgefunden?«, fragte Mrs Finkenstein neugierig.
»Amalia Sherwood war die Schwester von Cathleen Sherwood, die mit Lord Hampton verheiratet war. Beide Schwestern sind hier im Moor in Devon umgekommen. Amalia 1895 und ihre Schwester anderthalb Jahre später.«
Die Stille am anderen Ende der Leitung war fühlbar. »Das würde heißen, Ihre Großmutter war zu dem Zeitpunkt, als sie einen anderen Namen angenommen hatte, offiziell tot?«
Melinda strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ja! Und ich wundere mich, dass man meine Nachforschungen hier mit allen Mitteln zu unterbinden sucht«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Mrs Finkenstein.
»Was meinen Sie damit?«, erklang es beunruhigt am anderen Ende.
»Man hat mich bedroht und mein Zimmer durchsucht«, berichtete Melinda, die es für besser hielt, den Überfall zu verschweigen.
»Sie sollten sofort nach London zurückkehren. Wer weiß, worauf Sie da gestoßen sind«, befand Mrs Finkenstein besorgt. »Sie können doch auch von hier aus weitere Recherchen betreiben. Ich werde Ihnen helfen. Jetzt, da wir den Namen Ihrer Großmutter wissen, wird alles viel einfacher sein.«
»Danke, das ist sehr nett. Machen Sie sich keine Sorgen, ich muss heute ohnehin nach London zurück. Meine Fortbildung geht morgen weiter.«
Sie verabschiedeten sich, und Melinda versprach Mrs Finkenstein, sich bei ihr zu melden, sobald sie in London war. Die widersprüchlichsten Gedanken tobten durch ihren Kopf, als sie den Telefonhörer auflegte. Ihre Großmutter war Amalia Sherwood gewesen? Mit einem Mal stellte sich ihr alles in einem völlig neuen Licht dar. Übte die Gegend und Landschaft deshalb eine so starke Anziehungskraft auf sie aus, weil ihre Großmutter hier aufgewachsen war? Melinda entsann sich, wie sie am letzten Wochenende mit diesem eigenartigen Gefühl vor dem Herrenhaus von Sherwood gestanden hatte.
Warum war ihre Großmutter nur für tot erklärt worden?
Zurück in ihrem Zimmer, las sie erneut die Zeitungsartikel, die sie George Clifford entwendet hatte. Ihr Blick blieb an einem Absatz von einem der Berichte hängen.
Amalia Sherwood kam im Jahr 1895 während des furchtbaren Herbststurms um, der über Cornwall und Devon hinwegging. Unklar bleibt jedoch, genau wie bei ihrer Schwester Cathleen Hampton,
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