Die Schwestern von Sherwood: Roman
Sind Sie gestürzt?«, fragte Mrs Benson mit Blick auf ihre Schürfwunde.
»Ach, das ist nichts«, erwiderte Melinda, die der Wirtin ungern von dem Überfall erzählen wollte.
Mrs Benson betrachtete sie besorgt. »Ich hoffe, Sie nehmen jetzt keinen schlechten Eindruck von hier mit, nach dem Einbruch in Ihr Zimmer. Sind Sie denn wenigstens mit Ihren Recherchen vorangekommen?«
»Ja, das bin ich.« Melinda nickte, denn das war sie tatsächlich, wenn auch auf ganz andere Art, als sie es vermutet hätte. Sie bedankte sich bei der Wirtin noch einmal für ihre Gastfreundschaft und verabschiedete sich.
Auf dem Weg nach draußen sah sie den alten Mr Benson in seinem Lehnstuhl sitzen. Kurz entschlossen stellte sie ihre Tasche ab und ging noch einmal zu ihm hin. »Mr Benson?«
Der alte Mann schaute zu ihr hoch. Er wirkte wieder einmal, als würde er mit seinen Gedanken wieder weit weg weilen.
Sie beugte sich zu ihm und berührte seine Hand. »Ich wollte auf Wiedersehen sagen. Und Sie haben recht gehabt!« Melinda lächelte sanft. »Sie lebte noch. Auch wenn die Leute etwas anderes behauptet haben.«
Der alte Mann schien sie einen Augenblick lang klar wahrzunehmen und schaute ihr in die Augen. »Ich habe sie gesehen – in London«, sagte er in einem Ton, als würde er noch heute zu begreifen versuchen, wie das sein konnte.
Melinda, die sich etwas in der Art gedacht hatte, fühlte mit einem Mal eine seltsame Verbundenheit mit seiner alten Seele, die sich irgendwo auf der Zeitachse von damals und heute verirrt hatte. Vermutlich war Mr Benson nicht der Einzige, der ihre Großmutter gesehen hatte, dachte sie. Zwischen ihrem Verschwinden und ihrem Aufbruch nach Berlin lagen nahezu zwei Jahre. Waren das die »Hinweise«, von denen Sandfort in seinem Artikel geschrieben hatte?
Mr Benson sah sie noch immer an.
»Hat Amalia gemalt?«, fragte Melinda ihn.
Er nickte erneut. »Das Moor. Das hat sie gemalt. Immer wieder. Sie war zu oft allein dort draußen«, fügte er kopfschüttelnd hinzu.
Melinda sah die Bilder vor sich und lächelte. »Sie war meine Großmutter.«
Mr Benson, dessen Blick wieder in die Ferne geschweift war, schaute sie verwirrt an. »Ihre Großmutter? Nein, das kann nicht sein, dafür ist Miss Sherwood doch viel zu jung«, widersprach er ungläubig, und seine Reaktion verriet ihr, dass er mit seinem Bewusstsein wieder in der Vergangenheit angekommen war.Melinda nickte ihm zum Abschied noch einmal mit einem Lächeln zu und griff nach ihrer Tasche.
94
D ie Aquarelle und Zeichnungen aus dem Paket waren von ihrer Großmutter. Natürlich hatte sie es manchmal vermutet, aber es war dennoch anders, es zu wissen. Melinda merkte, wie erst nach und nach die Information in ihr Bewusstsein sickerte, dass Amalia Sherwood tatsächlich ihre Großmutter gewesen war. Sie begriff, dass auch die Liebesbriefe dieses Unbekannten an sie gerichtet gewesen waren. Die beiden hatten ein Verhältnis gehabt, und dann war irgendetwas geschehen … Es hätte nahegelegen zu vermuten, dass Amalia ungewollt schwanger geworden und das Verhältnis dadurch beendet worden war, doch ihre Großmutter hatte erst 1896 ein Kind erwartet.
Nachdenklich glitt Melindas Blick aus dem Fenster des Busses, der mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit zwischen Hügeln und Feldern die schmalen Straßen entlangrauschte. Sie wünschte, sie hätte gewusst, wer der Mann gewesen war, den ihre Großmutter so leidenschaftlich geliebt hatte. Doch sie hatte bisher keinen Anhaltspunkt dafür finden können, um wen es sich bei dem Unbekannten handelte.
Melinda war aufgewühlt und durcheinander. Nach den Geschehnissen der letzten beiden Tage wollten ihre Gedanken und Gefühle nicht zur Ruhe kommen. Zu viel war geschehen. Gegen ihren Willen wanderten ihre Gedanken immer wieder zu George Clifford zurück. Es tat weh, sich derart in ihm getäuscht zu haben. Sie presste die Lippen zusammen. Noch immer konnte sie es nicht fassen, dass er für Tennyson arbeitete. Von Anfang an hatte er sie belogen! Immerhin verstand sie nun seine eigenartige Reaktion darauf, dass sie sich für die Legende der Sherwood-Schwestern interessierte. Melinda verspürte einen schalen Geschmack im Mund, als sie sich daran erinnerte, wie sie George in der Küche erzählt hatte, dass Tennyson sie bedroht habe und sie sich sicher sei, er würde hinter dem Überfall stecken. Er wird dich nicht mehr angreifen oder bedrohen, glaub mir , hatte er gesagt – und sie hatte ihm vertraut! Ein schrecklicher
Weitere Kostenlose Bücher