Die Schwestern von Sherwood: Roman
Eltern sie hierhergebracht hatten, war der Gedanke an Edward das Einzige gewesen, das sie aufrecht hielt und sie alles andere durchstehen ließ. Sie war sicher gewesen, dass, wenn ihr nur die Flucht gelänge und sie Edward wiedersähe, dann auch alles wieder gut werden würde. Wie ein Albtraum, aus dem man erwachte und dann erleichtert feststellte, dass es Morgen war und man nur geträumt hatte. Doch nun war alles anders. Unwiderruflich! Es würde keine Zukunft für sie beide geben.
Ein Bild drängte sich vor ihre Augen: Cathleen als Braut, wie sie an der Seite von Edward vor dem Altar stand, wie er sie küsste und liebte. Quälende Eifersucht stieg in ihr hoch, und Tränen traten in ihre Augen. Abrupt erhob sie sich von ihrem Stuhl. Die Köpfe um sie herum wandten sich neugierig zu ihr, als sie aus der Bibliothek stürzte.
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M r Beans hatte beobachtet, wie sie überhastet aus dem Raum lief. Mühsam unterdrückte er den Impuls, Amalia hinterherzugehen. Doch es waren zu viele Leute in der Halle unterwegs. Er wartete einige Momente, bevor er wie beiläufig die Zeitung ergriff, die sie gelesen hatte. Sie lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Was hatte sie so schockiert? Tränen standen in ihrem Gesicht, als sie nach draußen gestürzt war.
Mr Beans hatte die Vermählungsanzeige schnell entdeckt. Der Name ihrer Schwester stach ihm sofort ins Auge. Cathleen Sherwood hatte sich einen echten Lord geangelt. Wer hätte das gedacht? Nachdenklich riss er die Seite aus der Zeitung, faltete sie zusammen und steckte sie in seine Jackentasche.
Als er die Bibliothek verließ, überlegte er erneut, was an dieser Nachricht Amalia so erschüttert haben könnte. Dass man sie nicht zu dieser Hochzeit eingeladen hatte? Nein, es musste etwas darüber Hinausgehendes gewesen sein, ging ihm dann auf, denn sie hatte nicht nur getroffen, sondern auch verzweifelt gewirkt. Seine schöne Amalia … Es gab einiges an dem Umstand ihres Aufenthalts hier, das er nicht ganz verstand. Zum Beispiel der falsche Name, Amalia Stone, unter dem ihre Eltern sie hier untergebracht hatten. Viele Familien fühlten sich mit einem tauben Familienmitglied überfordert, und vor allem in den gesellschaftlich besser gestellten Kreisen kam oft eine gewisse Scham darüber hinzu, aber Amalia hatte die letzten zwanzig Jahre zu Hause gelebt. Was war geschehen, dass die Eltern das nun geändert hatten?
An jenem Tag, als sie mit ihr im Hof aus der Kutsche gestiegen waren, hatte er sein Glück kaum fassen können. Verborgen hinter der Gardine, stand er am Fenster und hatte sie zwar nicht sofort erkannt, dafür aber ihre Eltern. Dann hatte er das Haar von Amalia gesehen, das noch genauso hell und blond war wie früher als Kind, und ihm war klar, wen sie dort brachten. Über Jahre hatte er an sie gedacht, denn er hatte den Kampf mit ihr und die Demütigung seines Rauswurfs bei den Sherwoods nie vergessen. Nun hatte das Schicksal dafür gesorgt, dass sie ihm wieder in die Hände fiel.
Schon als Kind war sie hübsch gewesen, jetzt aber war sie zu einer Schönheit erblüht. Mr Beans musste nach den Vorfällen mit den beiden Mädchen jedoch vorsichtig sein. Dr. Graham hatte zwar keinen Augenblick lang geglaubt, dass die Geschichte stimmte, doch eine weitere Verdächtigung würde ihn vielleicht ungewünscht zum Nachdenken bringen.
Bei Amalia hatte er aber von Anfang an Vorsorge getroffen. Er hatte dem Heimleiter sofort erzählt, dass sich hinter dem engelsgleichen Gesicht ein äußerst trotziger und widerspenstiger Charakter verbarg. »Sie wird vermutlich einiges erfinden, um dem Unterricht zu entgehen«, hatte er Dr. Graham gewarnt.
Zu Mr Beans’ eigener Überraschung gab sich Amalia jedoch erstaunlich gefügig. Es war ihr anzumerken, wie sehr ihr der Unterricht zuwider war, aber man konnte nicht sagen, dass sie sich verweigerte. Er gestand sich, dass ihn diese Tatsache ein wenig enttäuschte. In Gedanken hatte er die Möglichkeiten, wie er sie disziplinieren würde, damit sie sprach, bereits unzählige Male durchgespielt.
Mr Beans hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, mehr über sie wissen zu müssen, um sie ganz in seine Macht bringen zu können, denn genau das war sein Ziel. Schon zweimal hatte er sich während der morgendlichen Andacht in ihr Zimmer geschlichen. Er hatte sich ihre Kleidung angeschaut. Die zarten Mieder, die nach ihr rochen, brachten ihn fast zum Wahnsinn. Es gab wenig persönliche Gegenstände zwischen ihren Sachen. Nur die Figuren eines alten
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