Die Schwestern von Sherwood: Roman
schwindlig realisierte, was diese Auskunft bedeutete, nickte. »Die Schwester meiner Großmutter, Cathleen Sherwood, war mit ihm verheiratet.«
»Nun, vielleicht war es ein Geschenk von den beiden für Ihre Großmutter?«
Melinda schwieg, da es ihr eindeutig zu kompliziert erschien, ihm die näheren Familienverhältnisse zu erläutern. Edward Hampton hatte Cathleen erst einige Monate nachdem er die Schachfiguren gekauft hatte, geheiratet …
Sie bedankte sich bei dem Antiquitätenhändler für seine Hilfe.
»Sehr gern, Miss. Es hat mir selbst Vergnügen gemacht. Ich werde die anderen Jahrbücher trotzdem auch noch einmal durchsehen, ob die Schachfiguren weiter auftauchen. Gibt es eine Telefonnummer, unter der ich Sie erreichen kann, falls ich noch etwas finde?«
Melinda gab ihm die Nummer ihrer Pension.
Als sie wenig später auf die Straße hinaustrat, überschlugen sich ihre Gedanken. Edward Hampton hatte Amalia die Schachfiguren geschenkt! Das hieß, er hatte ihr auch die Briefe geschrieben, denn in einem von ihnen sprach er über das Schachspiel. Er hatte es seiner Geliebten, ihrer Großmutter, beigebracht! Melinda fröstelte, während sie dunkel das Ausmaß der dramatischen Ereignisse zu erahnen begann, die sich damals abgespielt haben mussten. Hätte sie die Briefe nicht gelesen, sie wäre vermutlich in Versuchung geraten zu glauben, dass Lord Hampton nur eine belanglose Affäre mit ihrer Großmutter gehabt hatte. Doch aus den Zeilen an sie sprach nur allzu deutlich heraus, wie tief seine Gefühle gewesen waren. Dennoch hatte er nur wenige Monate nach dem Unglück ihre Schwester Cathleen geheiratet.
Vage erinnerte Melinda sich an etwas, das sie in einem der Artikel von Sandfort gelesen hatte. Die Hamptons hatten angeblich durch Misswirtschaft und gefährliche Fehlspekulationen große finanzielle Probleme gehabt. Ihre Schulden waren von John Sherwood beglichen worden. Nur aus diesem Grunde war es überhaupt zu der Vermählung gekommen, die in adeligen Kreisen nicht als standesgemäß angesehen worden war. Hatte Edward Hampton Cathleen nur deshalb geheiratet? Wegen des Geldes?
Sie lief nachdenklich weiter und musste daran denken, dass Barry Sandfort, der Journalist, eine Spur verfolgt hatte, die darauf hinwies, dass Amalia nach ihrem angeblichen Tod in einem Heim in Kent gewesen war, an der Küste, nicht weit von Dover entfernt. Zu einem Zeitpunkt, als sie offiziell schon als verunglückt und verschwunden galt. Man hatte sich ihrer Großmutter entledigt, begriff Melinda plötzlich. Stück für Stück schien sich mit einem Mal alles zusammenzufügen. Als sie anfing, Nachforschungen über ihre Familie anzustellen, hätte sie nicht im Traum geglaubt, jemals auf ein derartiges Drama zu stoßen. Obwohl sie ihrer Großmutter nie begegnet war, berührte sie das Schicksal von Amalia Sherwood zutiefst. Was musste sie durchgemacht haben!
Jemand hatte ihr das Paket geschickt, damit sie all das herausfand, wurde Melinda erneut bewusst. Noch immer war ihr jedoch unklar, wie Amalias Weg von dem Heim zu den Finkensteins geführt hatte. So, wie Roger Sandfort es nach den Aufzeichnungen seines Vaters darstellte, klang es, als sei das Heim eine geschlossene Einrichtung gewesen. Wie war ihre Großmutter von dort wieder weggekommen?
Melinda hoffte inständig, dass Sandfort in den Unterlagen seines Vaters noch etwas fand. Es gab eine ganze Mappe mit Rechercheunterlagen, die seine Mutter bis zu ihrem Tode aufbewahrt hatte und die sich jetzt im Besitz von Roger Sandfort befand. Er hatte es aus Sentimentalität nicht über sich gebracht, sie wegzuwerfen, hatte er ihr erzählt – was sich jetzt als Glücksfall erwies. Sandfort hatte versprochen, noch einmal alles für Melinda durchzusehen.
112
S ie kehrte in die Pension zurück und zog sich um, denn sie war zum Dinner bei Mrs Finkenstein, der Bankdirektorin, eingeladen. Ihr Bruder Jacob würde ebenfalls kommen.
Sehr viel Auswahl blieb ihr bei ihrer bescheidenen Garderobe nicht. Melinda betrachtete sich in ihrem Kleid im Spiegel. Es war alt, aber immerhin nicht ganz so fadenscheinig wie ihre anderen Sachen. Sie seufzte. Sobald sie etwas Geld zusammengespart hatte, musste sie sich etwas Neues kaufen. In Gegenwart der Finkensteins wurde ihr stets bewusst, wie ärmlich und abgetragen ihre Kleidung war – auch wenn weder die Bankdirektorin noch ihre Mutter sie das jemals spüren ließen.
Während Melinda sich vor dem kleinen Spiegel in ihrem Zimmer die Haare kämmte,
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