Die Schwestern von Sherwood: Roman
abzuwarten, legte sie eilig den Hörer auf. Tränen standen in ihren Augen.
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A m Abend war sie mit Andrew Johnson, dem Journalisten und Seminarleiter, zum Essen verabredet. Er hatte ihr mit den Nachfragen beim Archiv, aber auch mit ihren kurzen Gesprächen sehr weitergeholfen, sodass sie es als unhöflich empfunden hätte, ihm ein weiteres Mal abzusagen. Eine rein freundschaftliche Verabredung , hatte er ihr zudem versprochen und dabei zwei Finger zum Schwur gehoben – und sie hatte lachen müssen.
Sie trafen sich in einem Pub in Notting Hill. Melinda war froh über die Ablenkung. Das Gespräch mit George Clifford hing ihr noch immer nach. Sie berichtete Johnson von den Unterlagen, die ihr Roger Sandfort zur Verfügung gestellt hatte.
»Je tiefer ich in die Vergangenheit meiner Großmutter eindringe, desto schrecklichere Dinge scheinen zutage zu kommen«, sagte sie.
»Das ist leider nur allzu oft so, wenn man anfängt, nach der Wahrheit zu forschen.«
Melinda musste zugeben, dass er damit recht hatte. Sie kannte viele Menschen, die die Wahrheit im Grunde nicht wissen wollten, wenn sie unangenehm war. Sie selbst war jedoch immer anders gewesen – und auch mit der Geschichte ihrer Familie ging es ihr jetzt so.
Die Bedienung brachte die Suppe, die sie beide bestellt hatten.
»Nächste Woche wird die Fortbildung zu Ende gehen. Freuen Sie sich darauf, nach Berlin zurückzukehren?«, fragte Johnson.
»Ich weiß nicht«, sagte sie aufrichtig. »In Berlin ist so viel Schreckliches geschehen, und alles erinnert mich daran. Ich habe meine Eltern und viele Freunde verloren … Die Zeit hier hat mir in gewisser Weise einen Neuanfang erlaubt, weil ich die Vergangenheit einfach hinter mir lassen konnte. Wie ein sauberer Schnitt«, bekannte sie, und dabei wurde ihr plötzlich bewusst, dass es für ihre Großmutter wahrscheinlich ebenso gewesen war, als sie vor über fünfzig Jahren nach Deutschland ging.
»Ich verstehe, was Sie meinen – sehr gut sogar. Wenn uns eines über die Landesgrenzen hinweg eint, dann sind es die Gespenster der Vergangenheit«, sagte Johnson ernst. »Aber ich frage Sie wegen Ihrer Rückkehr aus einem bestimmten Grund. Sie haben das Zeug zu einer ausgezeichneten Journalistin, und meine Zeitung ist auf der Suche nach guten Redakteuren. Ihnen fehlt noch etwas Erfahrung, aber das wird mit der Zeit von allein kommen. Dafür wäre Ihre Zweisprachigkeit von ungeheurem Vorteil.«
Melinda legte ungläubig den Löffel ab. »Soll das ein Jobangebot sein?«
»Nein, ich würde nur gern öfter mit Ihnen ausgehen«, gab er trocken zur Antwort.
Sie stieß ein Lachen aus. Einen Moment lang fehlten ihr die Worte. »Ich würde mich unglaublich freuen –«
Er unterbrach sie. »Denken Sie in Ruhe darüber nach. Es wäre ein großer Schritt.«
Sie nickte.
Er bot ihr nach dem Essen an, sie nach Hause zu fahren, doch Melinda wollte lieber zu Fuß gehen. Die Pension lag nicht weit entfernt.
»Ich begleite Sie, etwas frische Luft wird auch mir guttun«, sagte er.
Eine Zeit lang liefen sie schweigend nebeneinander her, und Melinda bemerkte, wie ihre Gedanken unweigerlich wieder zu ihrer Großmutter zurückkehrten. Am Nachmittag hatte sich der Antiquitätenhändler noch einmal bei ihr gemeldet. Er hatte in den Büchern einen weiteren Eintrag über die Schachfiguren gefunden. Eine Helene Griffith hatte sie im Juni 1896 auf Kommission in den Laden gegeben, um sie zum Verkauf anzubieten. Seltsamerweise gab es danach eine Notiz, dass Edward Hampton die Figuren erneut erstanden hatte. Vielleicht handelte es sich aber auch nur um einen Fehler, denn der Eintrag stand am Rand und war bereits etwas unleserlich geworden.
Sie erzählte Johnson von dem Anruf. »Es ergibt keinen richtigen Sinn, denn meine Großmutter hat die Figuren ja später mit nach Deutschland genommen«, erklärte Melinda.
»Vielleicht hat der Antiquitätenhändler die Jahre vertauscht«, sagte Johnson.
»Das könnte sein«, gab sie zu. Sie hatten die Pension erreicht. »Vielen Dank für die Begleitung!«
»Gern.« Johnson stand dicht vor ihr und schaute sie an. Sie mochte ihn. Vielleicht sollte sie ihm eine Chance geben, ging es ihr durch den Kopf. Sie hob das Gesicht, und einen Augenblick lang schien es ihr, als würde er sie küssen wollen.
Unvermittelt unterbrach eine schneidende Stimme jedoch den kurzen Moment der Intimität. »Guten Abend!«
Sie fuhr herum, als sie das tiefe Timbre erkannte. George Clifford stand vor ihnen. Finster
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