Die Schwestern von Sherwood: Roman
Home, denn sie konnte sich nun frei und ungezwungen in der Gebärdensprache austauschen. Amalia merkte dennoch, dass sie unbewusst noch immer oft abrupt in ihren Gebärden innehielt, wenn jemand einen Raum betrat.
Sie freundete sich schon bald mit einer jungen Frau namens Grace an, die als Näherin arbeitete. Sie kam aus einer einfachen Mittelschichtfamilie und war auf eine spezielle Schule für Taube gegangen, konnte jedoch kaum lesen und schreiben. Die beiden trafen sich regelmäßig, und Amalia brachte es ihr bei. Zu den großen Errungenschaften ihres neuen Lebens gehörte ein Bibliotheksausweis. Damit lieh sie auch einige einfache Kinder- und Märchenbücher aus, die sie mit Grace las.
Dr. Stevenson riet Amalia, zusätzlich noch Unterricht in der Gebärdensprache zu nehmen, um sich darin weiter zu verbessern, und sie kam seiner Anregung nach, denn sie merkte selbst, dass ihr manche Feinheiten darin noch fehlten.
Die Organisation half Amalia auch, eine Arbeit zu finden. Dr. Stevenson, der zu einem väterlichen Freund geworden war, hatte sie gefragt, ob sie über besondere Talente oder Fähigkeiten verfüge. Entmutigt hatte Amalia den Kopf geschüttelt. Sie konnte nichts – nicht einmal nähen oder kochen.
Ich kann malen , hatte sie dem Arzt schließlich mit einem schiefen Lächeln bedeutet.
Er hatte sie nachdenklich angeschaut. Einige Tage später brachte er ihr Papier und Tusche. Trauen Sie sich zu, drei Muster für Stoffe zu entwerfen? Für Vorhänge und Kleider? In einer Tuchfabrik wird jemand gesucht.
Sie versuchte es. Seitdem ihre Eltern sie nach St. Mary’s Home gebracht hatten, hatte sie nicht mehr gemalt, und sie stellte erst jetzt fest, wie sehr es ihr fehlte. Das Entwerfen der Muster machte ihr unerwartet viel Spaß. Die Tuchfabrik war angetan und erklärte sich bereit, ihr regelmäßig Aufträge zukommen zu lassen. Amalia konnte die Arbeit zu Hause erledigen. Sie verdiente nicht viel, aber es reichte zum Leben und für eine kleine Wohnung, die in einem einfachen, aber ordentlichen Viertel Londons lag und die sie sich nun mit Grace teilte. Amalia bezog sie zwei Tage nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag.
Ihr Leben war bescheiden, aber sie war jede Sekunde dankbar dafür, denn sie war frei. Dennoch verging kein Tag, an dem sie nicht an Edward dachte. Manchmal holte sie die Schachfiguren heraus, die er ihr geschenkt hatte. Wenn sie die rote Dame betrachtete, verspürte sie deutlich den tiefen Schmerz, der in ihr war. Es war ein Gefühl, das sie nie verließ. Unter den Tauben und auch den Hörenden waren durchaus einige Männer, die ihr Avancen gemacht hatten, seitdem sie in London war. Doch sie ging auf keinen von ihnen ein. Obwohl sie sich wünschte, es wäre anders, wusste sie, dass sie niemals einen anderen Mann so lieben würde, wie sie Edward geliebt hatte.
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Sherwood, Frühjahr 1896
C athleen hatte das verstaubte Buch oben in einer der Dachkammern gefunden. Es war ein Zufall gewesen, dass sie es entdeckte. Sie war durch das alte Herrenhaus gewandelt und hatte sich an die versteckten Winkel und Ecken ihrer Kindheit erinnert. Die knarrenden Dielen ließen sie daran denken, wie sie hier früher mit ihrer Schwester lachend und außer Atem durch die schmalen Gänge gerannt war und sich versteckt hatte. Hinter jeder Tür schien ein neues Abenteuer auf sie zu warten, und mehr als einmal kam es ihr auch heute noch immer so vor, als würde gerade erst der Saum von Amalias Kleid hinter einer der Ecken verschwinden.
Behutsam wischte sie jetzt mit dem Finger das Buch sauber. Es war alt und von einem Autor namens Abbé de l’Epée verfasst. Als Cathleen es aufschlug, entdeckte sie überrascht, dass es auf Französisch verfasst war und zahlreiche Abbildungen von zu Zeichen und Gesten geformten Händen enthielt – ähnlich denen, die sie und Amalia benutzt hatten. Das Buch hatte versteckt hinter einer Wandvertäfelung in einer Nische gelegen. Es musste Amalia gehört haben. In der Dachkammer hatten sich auch ein paar Zeichnungen von ihrer Schwester befunden, als wäre sie öfter allein hier oben gewesen. Cathleen fragte sich, von wem sie das Buch bekommen hatte, denn sie war sich sicher, dass es nicht zum Bestand der Bibliothek gehörte.
Mit dem Buch in der Hand machte sie sich auf den Weg nach unten. Sie war bereits den ganzen Tag in Sherwood. Edward hatte sie begleitet. Er kam gern hierher, war ihr aufgefallen, als ob er sich hier freier als in Hampton fühlen würde. Heute hatte es
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