Die Schwestern von Sherwood: Roman
allerdings noch einen anderen Anlass für ihn gegeben mitzukommen. Ihre Mutter hatte ihn sprechen wollen. Sie war in großer Sorge um ihren Vater, der in den letzten Wochen unverändert viel trank und sich fast gar nicht mehr um die Geschäfte kümmerte. Aufträge wurden nicht ausgeführt, und Kunden beschwerten sich. Außerdem hatte er bei einer sinnlosen Spekulation hohe Summen verloren. Es war schrecklich. Manchmal erkannte Cathleen ihren Vater kaum wieder.
»Du musst aufhören zu trinken«, hatte sie ihm bei ihrem letzten Besuch liebevoll gesagt.
»Ich kann nicht«, erwiderte er und hatte dann ihren besorgten Blick bemerkt. »Du bist ein gutes Kind«, murmelte er. »Halte dich von deiner Mutter fern.«
Noch immer fragte sich Cathleen, was er damit gemeint hatte. Sie hatte das ungute Gefühl, die Bemerkung sei keineswegs nur seinem Alkoholgenuss zuzuschreiben gewesen. Wann immer sie ihre Eltern in den letzten Monaten gemeinsam gesehen hatte, war ihr Vater ihrer Mutter mit eisiger Kälte begegnet. Irgendetwas musste zwischen den beiden vorgefallen sein.
Sie gelangte ins Erdgeschoss, und ihre Gedanken wandten sich angespannt wieder ihren eigenen Sorgen zu. Am Tag zuvor war sie beim Arzt gewesen. Sie war beunruhigt, weil sie noch immer nicht schwanger war. Man hatte sie beschwichtigt, körperlich sei alles in Ordnung und nach einem halben Jahr Ehe bestünde wahrlich noch kein Grund zur Sorge. Sie solle sich noch etwas Zeit geben. Falls weiterhin nichts geschähe, gäbe es in London einen Spezialisten …
Cathleen seufzte. Es war vermutlich wirklich noch zu früh, aber sie wünschte sich nun einmal so sehr ein Kind, dachte sie, während sie sich auf die Suche nach Edward machte. Er befand sich in der Bibliothek und nickte ihr freundlich zu, als sie zu ihm trat.
»Und, hast du mit meiner Mutter gesprochen?«, erkundigte sich Cathleen.
»Ja, ich werde versuchen, mit deinem Vater zu reden, und nächste Woche einmal nach Plymouth und London fahren, um zu sehen, was dort los ist.«
»Das ist sehr nett von dir«, sagte sie, während sie sich elegant auf der Armlehne seines Sessels neben ihm niederließ. Er lächelte höflich. Bildete sie es sich ein – oder rückte er tatsächlich ein Stück von ihr ab? Sein Verhalten verletzte sie.
Man hörte, dass im Hof eine Kutsche vorgefahren war. Kurz darauf läutete es an der Tür.
»Schau, das habe ich gefunden«, sagte sie zu ihrem Mann und zeigte ihm das Buch.
Edward blickte darauf. Sein Gesichtsausdruck wirkte plötzlich wie versteinert. »Wo hast du das her?«, fragte er tonlos.
Seine Reaktion irritierte sie. »Es war oben in einer der Dachkammern. Es muss Amalia gehört haben. Ich habe es allerdings nie bei ihr gesehen –« Sie brach abrupt ab, denn ein Aufschrei, gefolgt von lautem Schluchzen und entsetzten Stimmen, war aus der Halle zu hören. Es klang schrecklich.
Cathleen ließ das Buch fallen und lief mit gerafftem Rock aus der Bibliothek zum Eingang. Sie sah ihre Mutter, deren Gesicht bleich war und die weinte. Auch Fanny, die Zofe, und das Dienstmädchen schluchzten, und selbst Arthur hatte gerötete Augen und rang um Fassung. Erst dann bemerkte sie die beiden Männer, die eine Bahre in der Halle abgesetzt hatten. Cathleen erstarrte voller Entsetzen, als sie die Gestalt darauf erblickte. Es war ihr Vater! Er wirkte seltsam wächsern und weiß. Sein Gesicht war in einem angestrengten Ausdruck unschön verzerrt und seine Augen geschlossen – er war tot.
125
London, Frühsommer 1896
D ie Aufträge waren in den letzten Wochen nach und nach weniger geworden waren. Anfangs hatte Amalia noch gehofft, dass es sich nur um einen vorübergehenden Rückgang handelte, doch im letzten Monat hatte das Geld neben der Miete kaum noch für etwas zu essen gereicht. Grace hatte die Einkäufe übernommen. Sie besaß selbst nicht viel, und es war Amalia unangenehm gewesen, ihre Hilfe anzunehmen. Nachdenklich strich sie sich eine Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht. Sie musste etwas unternehmen. Man mochte ihre Entwürfe in der Tuchfabrik, das wusste sie. Daran konnte es also nicht liegen. Sie beschloss, persönlich nachzufragen, und machte sich am Nachmittag auf den Weg zur Fabrik.
Schon von Weitem ahnte sie, dass etwas nicht stimmen konnte. Sie war nur einmal hier gewesen, zusammen mit einem Mitarbeiter von Deaf Friends . Amalia war bei dieser Gelegenheit dem Direktor und dem Leiter der Stoffabteilung, einem Mr Fraser, vorgestellt worden. Damals hatte ein
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