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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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musterte er Melinda und Johnson.
    »Nun, wie ich sehe, scheinst du dich gut in London zu unterhalten!« Sein Tonfall war eindeutig aggressiv. Überrascht schaute sie ihn an.
    Johnson zog die Brauen hoch.
    »George Clifford – Andrew Johnson«, stellte Melinda nervös vor. Die beiden Männer nickten knapp.
    »Ich muss mit dir reden«, sagte George.
    »Jetzt?«
    »Nur kurz!«
    Melinda seufzte. Sie wandte sich zu Andrew Johnson, der offensichtlich abzuschätzen versuchte, was hier vorging, und nicht wusste, ob er sie allein lassen konnte. »Ich komme klar«, sagte sie leise.
    »Sicher?«, fragte Johnson mit einem skeptischen Blick zu George.
    »Ja.«
    »Gut, dann sehen wir uns morgen.« Er küsste sie vertraulich auf die Wange und entschwand in der Dunkelheit.
    » Morgen ?« George musterte sie ungläubig.
    »Das geht dich gar nichts an. Was willst du?«
    Er schwieg einen Moment lang und wirkte plötzlich verletzt. »Dir alles erklären.«
    »George …«
    Er ergriff ihren Arm. »Bitte. Ich weiß, ich hätte dir alles früher erzählen müssen, doch es ist kompliziert … Es geht nicht allein um mich. Ich bin an die anwaltliche Schweigepflicht gebunden.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Es gibt jemand, der dich kennenlernen möchte!«
    »Mich kennenlernen? Und wer?«, fragte sie misstrauisch.
    »Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe es versprochen.«
    Sie schenkte ihm einen kalten Blick. »Glaubst du, ich bin nach dem, was passiert ist, so dumm, dir noch zu vertrauen?«, fuhr sie ihn an.
    Einen Moment lang standen sie sich in der Dunkelheit gegenüber und starrten sich an. Schließlich atmete George tief durch. »Nein, ich verstehe dich sogar, auch wenn du mir unrecht tust. Erinnerst du dich, dass du in Berlin ein Paket bekommen hast?«, fragte er dann bemüht sachlich.
    Sie nickte mit zugeschnürter Kehle.
    »Die Person, die dir dieses Paket hat zukommen lassen – sie möchte dich kennenlernen.«

AMALIA

123
     
    London, Frühjahr 1896
    S ie nannte sich Helene – Helene Griffith. Es gefiel Amalia, einen neuen Namen zu haben, denn er machte es ihr leichter, mit dem Leben, das hinter ihr lag, abzuschließen. Dr. Stevenson und die Organisation Deaf Friends halfen ihr, neu Fuß zu fassen. Einige Wochen wurde sie in einem Zimmer eines Stadthauses untergebracht, in dem auch andere Taube lebten. Es gehörte einer Witwe, die selbst einen tauben Sohn gehabt hatte.
    Amalia bekam dort nicht nur Kleidung und Essen, sondern auch einen Schlüssel. Das kleine Stück Metall, das ihr erlaubte, jederzeit zu kommen und zu gehen, wann sie wollte, wurde für sie zum Inbegriff der Freiheit.
    Man hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, dass man in St. Mary’s Home glaubte, sie sei im Feuer umgekommen. Erleichterung durchflutete Amalia bei dieser Nachricht, und sie merkte, wie mit diesem Tag die Anspannung der schrecklichen zurückliegenden Wochen langsam von ihr wich. Nur flüchtig dachte sie darüber nach, wie ihre Eltern auf diese Nachricht reagiert hatten – oder auch Cathleen und Edward. Dann verbot sie sich jeden weiteren Gedanken daran. Sie hatten geheiratet …
    Die Großstadt mit ihrem vibrierenden Leben verschreckte Amalia anfangs, doch nach und nach begann sie kleine Ausflüge zu machen. Immer mit einem Stift und einem kleinen Block ausgerüstet, damit sie sich zur Not verständigen konnte, dehnte sie ihre Spaziergänge in London aus. Sie liebte es, die Märkte mit ihren bunten Waren aus aller Herren Länder anzuschauen oder die vorbeifahrenden Schiffe auf der Themse zu beobachten. Nur an manchen Tagen, wenn ein leichter Nebel über der Stadt hing, musste sie an das Leben in Sherwood und an das Dartmoor zurückdenken.
    In den ersten Wochen erstarrte sie in London noch bei jedem Passanten, der sie musterte oder ihr ein Lächeln schenkte. Sie hatte das Gefühl, man würde ihr ansehen, dass sie taub war – als wäre es ein Verbrechen, nicht hören zu können. Erst allmählich begann sie zu verstehen, dass die Menschen sie meistens wegen ihrer auffällig hellen Haare anschauten.
    Nicht nur durch ihre Mitbewohner, sondern auch über die Deaf Friends , die regelmäßig Treffen veranstalteten, lernte sie andere Taube kennen. Zu ihrer Überraschung gab es einige selbstbewusste und sehr gebildete Persönlichkeiten darunter, die in der Gesellschaft anerkannt und respektiert waren. Sie veränderten auch Amalias eigenes Bild von der Taubheit.
    Die Gespräche und Unterhaltungen untereinander waren anders als in St. Mary’s

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