Die Schwestern von Sherwood: Roman
Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein besorgter Ausdruck. »Sie hat Fieber!«
Das Gespräch zwischen ihren Eltern war abrupt verstummt, und Cathleen ergriff mit einem Mal ein unerklärliches Gefühl der Angst, als sie sah, wie alle ihre Schwester anblickten.
MELINDA
20
S ie waren die erste Etappe mit dem Zug gefahren. Vorbei an Städten und Landschaften, die noch immer vom Krieg gezeichnet waren – an zerstörten Häusern und Fabriken, zerfetzten Gleisen und kahlen Feldern. An den Bahnhöfen drängten sich Menschen, in deren Gesichtern der Ausdruck von Erschöpfung und Hunger zu lesen stand. Kinder umringten englische Soldaten, bettelnd um ein Stück Brot.
Melinda blickte betroffen nach draußen. Sie spürte, dass es den anderen Journalisten, mit denen sie sich das Abteil teilte, nicht anders ging als ihr. Die Zugfahrt, die in der Besatzungszone der Sowjets wiederholt von strengen Passkontrollen unterbrochen wurde, führte ihnen unmissverständlich vor Augen, wie langsam sich Deutschland nur von den Folgen des Krieges erholte.
Vom Gang drangen englische Gesprächsfetzen zu ihnen. Nur wenige Deutsche saßen in dem Zug, der überwiegende Teil der Passagiere bestand aus Engländern, die auf dem Weg in den Heimaturlaub waren.
Kurz hinter Kranenburg passierten sie die holländische Grenze und mussten erneut die Pässe vorzeigen. Die Grenzbeamten behandelten sie kühl. Melinda konnte es ihnen nicht verübeln.
Sie fragte sich, was sie wohl in England erwartete. Ob es ihr gelingen würde, dort mehr über ihre Großmutter und ihre Herkunft herauszubekommen? Sie dachte an den Zeitungsartikel, den sie gefunden hatte, und an die Finkensteins. Ob es die Bank noch gab? Draußen glitt währenddessen die flache Landschaft Hollands an ihnen vorbei. Fensterscheiben von kleinen schmucken Häusern glänzten im Sonnenschein. In vielen Gärten hing Wäsche auf weit gespannten Leinen. Es war ein idyllischer Anblick nach der zerstörten Landschaft, die sie zuvor durchfahren hatten.
Melinda wurde von plötzlicher Abenteuerlust gepackt. Sie war froh, in der nächsten Zeit weder die Herders sehen noch Angst vor weiteren unliebsamen Überraschungen mit Frank haben zu müssen.
Gegen Abend erreichte der Zug die Küste, und sie stiegen in Hoek van Holland aus, um dort aufs Schiff zu gehen. Melinda hatte eine kleine Kabine mit einem weiß bezogenen Bett für sich, doch die raue See ließ sie schnell erneut an Deck flüchten.
An der Reling traf sie Emil wieder, einen der anderen Journalisten. Melinda schätzte ihn auf Mitte dreißig, obwohl sich an seinen Schläfen bereits die ersten grauen Strähnen zeigten. Während der letzten Kriegsjahre habe er, wie viele Journalisten, Berufsverbot gehabt, hatte er ihr erzählt. Sinnend blickte er jetzt in den nachtblauen Himmel.
»Kaum vorstellbar, dass man mit dem Flugzeug inzwischen in weniger als drei Stunden in London sein könnte, oder?«, sagte er.
»Nein, aber ehrlich gesagt bin ich ganz froh, dass wir zu ebener Erde reisen. Das Schiff schwankt mir schon genug«, erwiderte Melinda mit einem schiefen Lächeln. Tatsächlich hatte aufgrund der angespannten politischen Situation zwischen den westlichen Alliierten und den Sowjets kurz die Überlegung bestanden, sie alle mit dem Flugzeug nach England fliegen zu lassen.
»Wer weiß, in ein paar Jahren wird es wahrscheinlich ganz normal sein zu fliegen. Und du bist also halbe Engländerin, ja?«, fragte er dann.
»Eine halbe Engländerin, die nie in England war«, bestätigte Melinda, der die Gischt ins Gesicht sprühte.
»Nun, dann wird es ja doppelt spannend für dich. Und du wirst bei der Fortbildung im Vorteil sein. Mit unserem deutschen Akzent werden wir wahrscheinlich keine Sympathiepunkte ernten.« Er verzog das Gesicht.
Sie lächelte. »Dafür habe ich nicht annährend eure journalistischen Erfahrungen.«
Emil zuckte die Achseln. »Das spricht in diesen Zeiten doch durchaus für dich.«
»Warum haben sich für die Fortbildung eigentlich so wenig Redakteure gemeldet?«, fragte sie neugierig.
Einen Moment lang schwieg er. »Wer lässt sich schon gern etwas vom ehemaligen Feind erklären?«, erwiderte er schließlich. »Auch wenn fast alle von uns gegen die Nazis waren. Ich glaube, die meisten haben einfach Angst gehabt, man lässt sie spüren, dass wir die Besiegten sind.«
Melinda nickte nachdenklich. Sie musste zugeben, dass sie diese Befürchtung verstehen konnte. Einige Zeit lang schaute sie an der Seite von Emil auf das dunkle
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