Die Schwestern von Sherwood: Roman
Meer hinaus und genoss die rhythmischen Bewegungen des Schiffes. Sie spürte, wie sie eine bleierne Müdigkeit ergriff, und wünschte Emil eine gute Nacht, bevor sie zurück zu ihrer Kabine ging.
Als sie sich in ihrem schmalen Bett ausstreckte, musste sie daran denken, was der Chefredakteur Arno Scholz zu ihr und den anderen Journalisten vor ihrer Abreise gesagt hatte: »Denken Sie daran, dass Deutschland zurzeit ein Land ohne eigene Regierung und Diplomaten ist. Journalisten wie Sie sind es, die den Neuanfang machen und den Menschen im Ausland ein anderes und neues Bild von Deutschland vermitteln können. Das sollten Sie nie vergessen!« Seine Worte hatten Melinda beeindruckt, und während sie einschlief, dachte sie erneut darüber nach, wie man sie in England wohl empfangen würde.
21
D ie Stadt war größer und unübersichtlicher, als sie geglaubt hatte. Vielleicht lag es auch an dem Nebel, der zu London zu gehören schien wie der Turm des Big Ben und der einem beständig die Sicht in die Ferne verweigerte. Vage konnte man die Umrisse des Towers aus dem grauen Dunst ragen sehen. Alles hier wirkte groß, laut und faszinierend, dachte Melinda. In den Straßen sah man Gesichter aus der ganzen Welt, ein Spiegelbild des Britischen Empire – Inder und Afrikaner genauso wie Einwohner der Karibik, Chinesen und rothaarige Iren. Fremde, exotische Gerüche stiegen einem in die Nase und vermischten sich mit der Feuchtigkeit des Nebels, dem Gestank von Abgasen und dem Rauch von Kohle, der über den Dächern in großen dunklen Schwaden aus den Schornsteinen stieg.
Melinda war bei der St. Paul’s Cathedral nach rechts abgebogen und blickte sich nun suchend nach einem Straßenschild um. Ludgate Hill – sie war richtig gelaufen.
Seit zwei Tagen befand sie sich in London. Die Fortbildung war interessant. Die Seminare bestanden aus Vorträgen renommierter englischer Journalisten und Dozenten – einige stammten auch von den Pressestellen des Militärs – und aus praktischen Übungen. Zu ihrer Überraschung sprachen die meisten recht gut Deutsch. Im Kern ging es vor allem um die Grundlagen einer demokratischen Berichterstattung, die nach der angelsächsischen Tradition in einer klaren Trennung von Nachricht und Meinung zu bestehen hatte. Nicht nur Redakteure des Telegraf , sondern auch Journalisten von etlichen anderen Zeitungen nahmen an der Schulung teil. Die Fortbildung ging von frühmorgens bis zum Nachmittag, sodass ihnen danach noch genug Zeit blieb, die Stadt zu erkunden und an Artikeln für ihre Zeitungen zu schreiben.
Melinda war in einer kleinen Pension untergebracht, nicht weit von Notting Hill entfernt. Mrs Donston, die Wirtin, war eine resolute ältere Dame, die außer Melinda noch zwei Iren und ein englisches Ehepaar beherbergte. Ihre anfängliche Reserviertheit wich etwas, als sie mitbekam, dass Melindas Mutter Engländerin gewesen war. Die Wirtin erzählte ihr, wie zu Beginn des Krieges unzählige Häuser und Gebäude in London durch die Attacken der deutschen Luftwaffe zerstört worden waren. The Blitz , so hatten die Engländer diese Angriffe genannt. Fast vierzigtausend Menschen seien dabei umgekommen.
»Nun, Ihr Herr Hitler hat uns wohl schwer verwundet, aber nicht schlagen können«, sagte Mrs Donston nicht ohne Stolz. Bei ihren Worten verspürte Melinda die gleiche schuldbewusste Verlegenheit, die sie seit ihrer Ankunft beim Anblick jedes zerstörten Gebäudes empfand. Selten hatte sie sich in ihrer Identität so zerrissen gefühlt.
Vorsichtig erkundigte sie sich bei der Wirtin, ob sie damit einverstanden sei, wenn sie ein kurzes Porträt über sie schreiben würde. Es schien ihr eine interessante Gegenüberstellung zu den Frauen, die sie in Berlin interviewt hatte, und sie freute sich, als Mrs Donston Ja sagte. Sie fragte die Wirtin auch, ob sie schon einmal von der Finkenstein Bank gehört habe, aber der Name sagte der alten Dame nichts. Einer der englischen Journalisten, Andrew Johnson, der bei der Fortbildung die Seminare leitete, konnte ihr jedoch weiterhelfen. Finkenstein sei eine kleine, aber sehr renommierte Privatbank, die ihren Sitz in der Nähe der St. Paul’s Cathedral habe, erklärte er auf ihre Frage hin. Wenn sie wolle, könne er ihr den Weg dorthin zeigen, bot er an. Andrew Johnson war ein sympathischer Mann mit rotblonden Haaren und Sommersprossen, und sie mochte seine humorvolle Art zu referieren. Dennoch hatte Melinda abgelehnt und sich allein auf den Weg hierher gemacht. Es
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