Die Schwestern von Sherwood: Roman
dann in einen Sessel neben sie. »Worüber wolltest du mit mir sprechen, Mutter?«
Sie wandte ihm den Kopf zu, und er verspürte plötzlich einen schalen Geschmack im Mund, als er den bitteren Ausdruck ihrer Augen gewahr wurde.
»Ich hatte gestern Besuch. Von einer Frau … einer Person, die ich bis dahin nicht einmal zum Tee empfangen hätte.«
Er zog die Augenbrauen hoch. Der Standesdünkel seiner Mutter war ein offenes Geheimnis. Manchmal übertrieb sie für seinen Geschmack ein wenig, doch dieses Mal sagte ihm sein Gefühl, dass es nicht der Fall war.
»Und um wen hat es sich dabei gehandelt?«
»Um Mrs Sherwood.«
Ein Bild tauchte in seinem Kopf auf. Eine junge Frau auf dem Ball, die ihn wie so viele mit ihren Blicken verfolgt hatte und an der er genau wie an allen anderen nicht das mindeste Interesse hatte. Miss Sherwood! Er starrte seine Mutter an, die seinem Blick auswich.
»Sie hat uns ein Angebot gemacht.«
»Ein Angebot?«, echote er. Er ahnte, was sie nun sagen würde.
Lady Hampton nickte. »Sie und ihr Mann wären bereit, all unsere Verpflichtungen zu übernehmen, wenn du ihre Tochter Cathleen ehelichen würdest.«
»Unsere gesamten Verpflichtungen? Mein Gott, wie reich sind sie denn?«, entfuhr es ihm, während er sich verzweifelt daran zu erinnern versuchte, wie genau dieses Mädchen ausgesehen hatte. Nicht unattraktiv, wenn er sich richtig entsann, aber vermutlich genauso affektiert wie die anderen.
»Reicher, als wir alle geglaubt haben«, erwiderte seine Mutter tonlos.
MELINDA
62
D er Zug nach Exeter ging pünktlich. Melinda, die sich nach ihrem Besuch in dem Antiquitätenladen direkt zum Bahnhof begeben hatte, stieg in ihr Abteil und ließ sich in den Sitz sinken. Eine Weile lang hing sie ihren Gedanken nach. Wenn der Händler herausfinden konnte, wer die Schachfiguren damals gekauft hatte, würde sie dem Rätsel vielleicht endlich auf die Spur kommen, überlegte sie.
Schließlich zwang sie sich, an einem Artikel zu arbeiten. Nach einiger Zeit spürte sie jedoch, wie die Müdigkeit sie übermannte.
Sie erwachte von dem schrillen Pfeifton der Dampflok. Die Lichter einer Stadt waren draußen zu erkennen, und sie stellte fest, dass sie bereits in Exeter einfuhren.
George Clifford empfing sie am Bahngleis. Ein leichtes Lächeln glitt über seine Lippen, als sie auf ihn zukam.
»Hallo! Wie war die Fahrt?«
»Erholsam. Ich habe vergeblich dagegen angekämpft einzuschlafen«, erwiderte sie trocken.
Das Lächeln auf seinen Lippen vertiefte sich, und ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment.
»Kommen Sie, Loyster wartet draußen«, sagte er dann und nahm ihr wie selbstverständlich die Tasche ab.
Es stellte sich heraus, dass Loyster der Chauffeur war.
Melinda musste daran denken, dass sie selbst in Berlin fast nur zu Fuß ging, um sich das Geld für die U-Bahn oder den Bus zu sparen, wenn diese Verkehrsmittel denn überhaupt fuhren.
Clifford nahm neben ihr auf dem Rücksitz Platz. Schon bald glitt der Wagen durch den Straßenverkehr und verließ die Stadt, um in die Einsamkeit der Landstraßen einzutauchen.
»Wie läuft die Fortbildung bisher?«, erkundigte er sich.
Nur vage konnte sie sein Gesicht erkennen, und sie verspürte in der Intimität des Wagens mit einem Mal eine leichte Befangenheit.
»Sehr gut. Danke. Ich habe einiges geschrieben, und ich lerne sehr viel.«
»Und werden Sie tatsächlich einen Artikel über die Sagen und Legenden aus dieser Gegend hier schreiben?«, fragte er.
»Ja, meinem Chefredakteur gefällt die Idee.« Die Antwort entsprach der Wahrheit. Scholz wollte den Artikel in dem Frauen-Telegraf , einer Themenseite, die jeden Freitag erschien, oder sogar in der Sonntagsbeilage, dem Illustrierten Telegraf , unterbringen.
»Sie sind nicht besonders angetan von der Idee, oder?«, fragte Melinda ihn geradeheraus. »Wie meinten Sie das, als Sie beim letzten Mal erwähnten, dass die Leute es nicht mögen, wenn man ihnen Fragen stellt?«
»Genau so, wie ich es sagte – die Leute mögen es nicht!« Er klang plötzlich reserviert, und sie erinnerte sich wieder daran, wie seltsam er reagiert hatte, als sie ihn auf die Geschichte der Sherwood-Schwestern angesprochen hatte.
»Wirklich? Bisher kann ich diesen Eindruck nicht teilen. Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, waren sogar alle ausgesprochen freundlich, wenn ich danach gefragt habe. Ehrlich gesagt sind Sie der Einzige, der so ablehnend reagiert hat.«
Fast im selben Moment bereute sie
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