Die Schwesternschaft
durch einen Wink mit dem Pistolenlauf, dass sie sich bewegen durfte.
Nadja erhob sich langsam und lief mit kleinen Schritten auf das Waschbecken hinter ihr zu. Sie nahm ein Glas und füllte es mit Wasser. In diesem Augenblick war ihr alles klar: Sie befand sich genau in der Situation, die ihr im Kino nie einleuchten wollte. Eine Person hielt eine andere in Schach, um ihr eine wichtige Information zu entlocken, doch diese zweite Person merkte nicht, dass eben jenes Geheimnis sie unangreifbar machte. Lena kann mich nicht erschieÃen, dachte sie.
Langsam drehte sie sich um, ging zwei Schritte auf die Frau zu und stellte sich ihr in den Weg. »Ich werde dir alles sagen«, erklärte sie versöhnlich. »Mehr noch: Ich werde dich zu dem Ort begleiten. Aber zuvor möchte ich wissen, warum dieses Buch so wichtig ist.«
Lena fand, dass dieses Mädchen tatsächlich Anspruch auf eine Erklärung hatte. »Es handelt sich nicht um ein Buch im klassischen Sinne. Das Buch der Blätter ist ein Dosierstein und dient dazu â¦Â«
Nadja schleuderte ihr mit ganzer Kraft das Glas entgegen und traf sie mitten im Gesicht.
Lena feuerte blind zwei Schüsse ab, aber Nadja war bereits davongestürzt, hatte die Tür mit der Schulter aufgestoÃen und rannte nun atemlos über die Wiese.
Nach einem kurzen Augenblick der Orientierungslosigkeit war Lena bereits wieder auf den Beinen und nahm Hals über Kopf die Verfolgung auf. Ihr Gesicht schmerzte, als sei der Wangenknochen gebrochen. Das würde sie büÃen. Nadja rannte wie eine Besessene, aber Lena war schneller und besser trainiert: Nicht mehr lange, und sie würde sie einholen. Dann würde sie das Messer hervorholen und ihr die Sehnen der Kniekehlen durchtrennen. Danach würde sie mit der Folter beginnen. Sie hatte schon zu viel Zeit auf dieser Insel verloren.
Inzwischen hatte Nadja das Gebiet mit den Leichen erreicht. Mit einem solchen Blutbad hatte sie nicht gerechnet, deshalb verlangsamte sie den Schritt, wie Lena zufrieden lächelnd feststellte. Doch gleich darauf wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte: Nadja hatte sich zu Taras hinuntergebeugt und erhob sich nun mit der Pistole des Ukrainers in der Hand. Sie feuerte einen Schuss in ihre Richtung ab. Verdammt schlecht gezielt, dachte Lena, doch nun wurde die Lage kompliziert.
Lena überlegte, ob sie eine der Geiseln nehmen sollte, wie Äerubina vorgeschlagen hatte, kam dann aber zu dem Schluss, dass dazu keine Zeit war. Unterdessen rannte Nadja so schnell sie konnte auf die Mauer des Anwesens zu.
Lena blieb mitten auf der Wiese stehen. Sie hob den Arm und zielte langsam auf die Beine der Fliehenden. In diesem Augenblick spürte sie einen Druck am FuÃgelenk. Ihr Blick schnellte nach unten, und alles, was sie sah, war der Lauf einer auf sie gerichteten Pistole.
Dann hörte sie die Explosion, und ihre Stirn wurde von Kirills Kugel zerfetzt.
63
Lambay Island
Montag, 3. Januar, 14.45
An diesem geschützten Punkt der Insel, zwischen dem kleinen Hafen und dem Anwesen, blies der Wind, der ihnen im Hubschrauber entgegengeweht war, nicht mehr so stark.
Chefinspektor Goonan warf einen erstaunten Blick auf das Tier. »Was, zum Teufel, hat das Känguru hier zu suchen?«, fragte er.
»Wenn ich mich nicht irre, kommen sie aus dem Dubliner Zoo«, erklärte ihm Inspektor Bridget Walsh.
»Halten sie keinen Winterschlaf?«
»Scheinbar nicht, Paul.«
Seit sie die Insel betreten hatten, versuchte Goonan nachzuvollziehen, was vorgefallen war, aber es war offenbar ein aussichtsloses Unterfangen.
Bereits im Anflug auf die mit Leichen übersäte Wiese hatte er den Ernst der Lage erkannt und einen Rettungshubschrauber sowie Verstärkung über den Wasserweg angefordert. Als sie ausgestiegen waren und die Szene aus der Nähe begutachtet hatten, war er vor Schreck erstarrt: Das Ganze sah weniger â wie ursprünglich angenommen â nach einer Auseinandersetzung zwischen russischen Mafiabanden als vielmehr wie eine Kriegsszene aus. Ein Blutbad wie in irgendeinem fernöstlichen Land.
Goonan hätte am liebsten sofort versucht, den Schusswechsel zu rekonstruieren, aber es gab Wichtigeres. Als Erstes erteilte er den beiden Polizisten, die er mitgenommen hatte, James Morrison und Paul Jackson, Befehl, die Inselbewohner ausfindig zu machen. Er hoffte, dass alle am Leben waren, er war in groÃer Sorge. Dann kehrte er zu Bridget zurück, die
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