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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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gesehen?«, fragte Madame und deutete auf das Büchlein. »Es ist ein prosodisches Übungsheft. Pass auf, dass du es nicht verlierst: Es gehört mir. Ich borge es dir aus, aber ich muss immer wissen, wo es ist. Bewahre es sorgfältig auf. Hast du verstanden?«
    Victoria nickte. Ein prosodisches Übungsheft! Diese merkwürdigen Zeichen mussten also einen Lautwert oder so etwas Ähnliches haben. Victoria betrachtete sie erneut eingehend, beginnend bei dem großen »V« am Satzanfang.
    Â»Lies vor«, forderte Madame Iv sie auf. »Fang mit den beiden ersten Buchstaben der Zeichenfolge an.«
    Victoria erschrak. Was sollte sie lesen? Ihr war zwar klar, dass es sich bei diesen Linien um Buchstaben des Ogham-Alphabets handelte, aber sie hatte sich weder damit auseinandergesetzt noch die Zeichen auswendig gelernt.
    Madame Iv sah sie nur an. »Ganz schlecht«, sagte sie vorwurfsvoll.
    Victoria war verwirrt.
    Â»Hast du zu Hause gelernt?«, fragte die Lehrerin kühl. »Ich habe dich bloß gebeten, die erste Silbe zu lesen.«
    Victoria versuchte, sich an die letzte Unterrichtsstunde zu erinnern. Iv war immer sehr rigoros: keinerlei schriftliche Aufzeichnungen. Dadurch wurde das Wiederholen daheim zu einer schwierigen Übung. Sie blendete alle anderen Zeichen aus ihrem Blickfeld aus und konzentrierte sich auf die beiden ersten Striche.

    Sie hatte gelesen, dass im Ogham-Alphabet jeder Buchstabe aus einer bestimmten Anzahl von Strichen bestand, die entweder alle gerade oder alle geneigt waren, aber niemals beides zusammen. Also mussten die beiden Striche zwei verschiedene Buchstaben darstellen: eine Silbe. Plötzlich erinnerte sie sich: Es waren die einfachsten Buchstaben der Ogham-Schrift. Gerader Strich gleich A, geneigter Strich gleich M.
    Â»A-M«, buchstabierte sie triumphierend.
    Madame nickte, nahm aber sofort wieder ihren strengen Gesichtsausdruck an.
    Â»Ich hoffe, du bist in Zukunft etwas schneller.«
    Victoria senkte beschämt den Blick. Dieser Unterricht war weitaus anspruchsvoller, als sie gedacht hatte.
    Iv trat auf den Schreibtisch zu und lehnte sich an die Glasplatte. »Meinen guten Ruf als Lehrerin verdanke ich meiner Unnachgiebigkeit, Victoria. Und ich mache bei niemandem eine Ausnahme.«
    Die junge Frau nickte.
    Â»Können wir jetzt weitermachen? Lies die erste Silbe noch einmal.«
    Victoria schluckte vor Aufregung, betrachtete erneut die beiden Striche, und nachdem sie sie im Stillen wiederholt hatte, tönte sie: »Ammm«, wobei sie der Stimme etwas zu viel Nachdruck verlieh.
    Madame schwieg und musterte sie eindringlich. Victoria fühlte sich unwohl.
    Â»Deine Aussprache zerstört den Sinn, die Stimmung der Zeichen. Sie ist nicht lebendig. Sie ist nichts. Sie birgt keinerlei Vorstellung dessen, was du sagst. Sie ist nur eine Zunge, die an den Gaumen stößt oder sich vor die Zähne legt. Dein A ist übertrieben kalt und dein M ein verschämter Bilabial. Deine Stimme ist ein verwöhntes Mädchen. Das muss anders werden.«
    Victoria errötete. Gut, sie war hier, um zu lernen, aber Madame gab ihr das Gefühl, unfähig zu sein, ihr Verhalten verletzte sie zutiefst.
    Â»Diese Silbe ist ein a-Moll-Klang und nicht diese grauenhafte Kakophonie, die du daraus gemacht hast. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.«
    Victoria umklammerte den Einband des prosodischen Übungsheftes. Noch nie in ihrem Leben war sie so gedemütigt worden. Sie musste sich zusammenreißen, um ihrer Lehrerin keine patzige Antwort zu geben.
    Â»Schlag das Heft zu und setz dich hierher. Du brauchst etwas Elementareres für den Anfang.«
    Victoria gehorchte und schlug das Heft zu: Am liebsten hätte sie es in Stücke zerrissen. Kaum hatte sie sich gesetzt, ließ Iv ungeduldig das Medaillon durch ihre Finger gleiten, als sei dieser Unterricht für sie nichts als Zeitverschwendung.
    Â»Es ist nicht deine Schuld, wenn die Buchstaben ihre Seele verloren haben«, bemerkte sie unerwartet sanft. »Wir müssen ein wenig in der Zeit zurückgehen, in das dreizehnte Jahrhundert, in jene Epoche, in der die walisischen Barden zum Christentum konvertierten. Sie waren es, die auf ihren Reisen von Dorf zu Dorf, während sie je nach Jahreszeit unter einem Baum oder an einem warmen Herdfeuer sangen, den Zauber des Wortes zu übertragen vermochten. Ein Zauber, der beim Publikum dieses merkwürdige Gefühl zwischen Freude und Grauen

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