Die Schwingen des Todes
Beispiel mit Luisa und Marta vom Begräbnis. Sie hatten mit Ephraim zusammen das Lager verwaltet, und vielleicht war ihnen inzwischen was Wichtiges eingefallen. Außerdem hatte Luisa immer noch seine Handschuhe - ein wunderbarer Vorwand für einen Besuch.
Allerdings nicht jetzt, wo sie in einem von Liebers Läden arbeitete und man Deckers Anwesenheit bemerken würde. Vielleicht versuchte er es heute Abend bei ihr zu Hause.
Dann war da noch Leon Hershfield. Wenn einer wusste, ob in der jüdischen Gemeinde jemand krumme Geschäfte machte, dann er. Aber Fragen an ihn wären wegen der Schweigepflicht kaum sinnvoll. Doch meist konnte Decker seine eigenen Schlüsse aus den Reaktionen seiner Gesprächspartner ziehen, auch wenn diese die Aussage verweigerten. Eine Menge ließ sich aus Miene und Blicken ablesen, aber Hershfield war zu clever, um irgendetwas preiszugeben, selbst auf nonverbale Art. Ein Gespräch mit ihm wäre nicht nur nutzlos, sondern auch von Nachteil - Decker würde ihm ohne Gegenleistung nur seine eigenen Gedanken verraten.
Der Anwalt kam also nicht in Frage.
Blieb noch Ari Schnitman, der ehemalige Drogensüchtige, der Ephraim von Emek Refa'im kannte. Luisa und Leon würden ihm nicht weiterhelfen, also blieb nur noch der Chassid übrig. Schnitman war Diamantenhändler auf der East Side. Da Decker weder seinen Parkplatz aufgeben noch im Stau stehen mochte, entschied er sich für ein Taxi.
Zwanzig Minuten später stand er im Herzen des Diamantenviertels, an der Fifth Avenue 580 zwischen 47. und 48. Straße. Die Diamantenbörse befand sich zwischen der b lauen Markise eines OshKosh B'Gosh-Kleiderladens und der ebenfalls blauen Markise eines Juweliers. Es war ein prächtiges altes Gebäude, etwa fünfzig Stockwerke hoch und mit Bogenfenstern, deren Scheiben so mit Bronze abgesetzt waren, dass es an die Kinderzeichnung eines Sonnenaufgangs erinnerte. Amerikanische Flaggen hingen über den steinernen Köpfen behelmter römischer Soldaten. Gegenüber lag die Bank Leumi, eine der offiziellen israelischen Banken.
Vor Jahren hatte Decker die Untersuchungen im Mordfall an einem Juwelier aus Los Angeles und seiner Frau geleitet. Der Fall fand seine Auflösung in Israel, und zwar in der Diamantenbörse von Ramat Gan, Tel Aviv - aus diesen Zeiten kannte Decker die Branche ein wenig und hatte einen Vergleich. Der Vorraum des Artdeco-Gebäudes Nummer 580 war kleiner als der in Israel, aber größer als das Diamantenzentrum in Los Angeles. Der Eingangsbereich wirkte eher wie ein Korridor, war ganz in grauem Granit gehalten, und wimmelte von wachsam blickenden Menschen mit Aktentaschen. Trotz der metallenen Wandleuchter entlang der dunklen Steinwände herrschte in den Räumen gedämpftes Licht. Direkt vor ihm zeigten große Uhren die Zeitzonen auf der ganzen Welt an. Die Sicherheitsvorkehrungen waren streng. Links stand der übliche Metalldetektor, dahinter ein Drehkreuz und ein Team von vier Wachmännern in grauen Jacketts, die Taschenkontrollen durchführten, während Menschen ins Gebäude eilten. Auf der rechten Seite sah Decker einen Informationscomputer mit Touchscreen. Der Liste zufolge saßen in dem Hochhaus hauptsächlich jüdische Firmen, manche Namen deuteten aber auch auf andere Nationalitäten hin - indisch, armenisch, südamerikanisch und russisch.
Büros und Börsensaal waren nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, daher musste Decker sich an der Rezeption anmelden. Nach einigen Fragen willigte einer der grauen Wachmänner ein, Schnitman anzurufen. Kurz darauf bekam Decker einen Laufzettel für den elften Stock mit dem Namen Classic Gems und der Büronummer in Handschrift. Er betrat einen Fahrstuhl und wurde von einem bewaffneten Angestellten hinaufbegleitet.
Schnitman lehnte ein paar Türen von Classic Gems entfernt im schmalen Korridor an der Wand und wartete auf ihn. Auf beiden Seiten des Foyers standen Wachmänner vor den Notausgängen. In der traditionellen chassidischen Tracht aus schwarzem Jackett, weißem Hemd und schwarzem Hut sah er älter, aber auch kleiner aus. Er strich sich über den Bart; seine Augen wirkten winzig hinter den Brillengläsern. Schnitmans Miene war ernst, fast feindselig. Anscheinend gelang es Decker, sich überall Freunde zu machen.
»Was wollen Sie hier?«, flüsterte Schnitman.
»Danke, dass Sie Zeit für mich haben«, begann Decker. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich Ihnen noch ein paar...«
»Es macht mir aber was aus!«, zischte er. »Ich hab mit der
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