Die Seele des Feuers - 10
sich über diese Mitteilungen aus, zumindest über jene, die er für interessant, wichtig oder bemerkenswert hielt, ohne jedoch vollständig Rechenschaft über sie abzulegen. Offenbar sah er keinen Grund, sie in seinem privaten Tagebuch in voller Länge wiederzugeben. Richard bezweifelte, ob Kolo wollte, daß sein Tagebuch je gelesen wurde. Kolo hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die einschlägige Information einer Nachricht kurz anzudeuten und anschließend einen Kommentar zu dem in Frage stehenden Problem abzugeben, daher waren die Informationen, die Richard über die Berichte zu lesen bekam, enttäuschend unzureichend – und einseitig.
Als Kolo es dann mit der Angst bekam, wurden seine Informationen ausführlicher, fast als wollte er sein Tagebuch dazu benutzen, ein Problem bis zur Lösung zu durchdenken. Während einer bestimmten Phase versetzten ihn die Berichte über die Chimären aus den Grußformeln in Angst und Schrecken. An mehreren Stellen schrieb Kolo nieder, was er den Berichten entnommen hatte, fast als wollte er seine Angst rechtfertigen und die Gründe für seine Besorgnis für sich selbst noch einmal hervorheben.
Wie Richard sich erinnerte, erwähnte Kolo jenen Zauberer, den man ausgesandt hatte, um sich der Chimären anzunehmen. Ander irgendwas – der vollständige Name war ihm entfallen.
Zauberer Ander trug den stolzen Beinamen ›der Berg‹. Offenbar war er ein Mann von kräftiger Statur. Kolo mochte den Mann jedoch nicht sonderlich und bezeichnete ihn spöttisch als ›moralischen Maulwurfshügel‹. Richard entnahm Kolos Tagebuch, daß Ander offenbar eine hohe Meinung von sich selber hatte.
Noch deutlicher erinnerte sich Richard an eine Passage, in der Kolo seiner Empörung darüber Ausdruck verlieh, daß die Menschen es immer häufiger versäumten, das Fünfte Gesetz der Magie korrekt anzuwenden: Achte darauf, was Menschen tun, nicht was sie sagen, denn Taten verraten jede Lüge.
Offenbar war Kolo erzürnt, als er niederkritzelte, durch Nichtbeachtung der Gesamtheit ihres Tuns versäumten es die Menschen, das Fünfte Gesetz der Magie auf Zauberer Ander anzuwenden. Hätten sie dies getan, so beklagte er sich, hätten sie leicht herausfinden können, daß dieser Mann sich in Wahrheit nur sich selbst verbunden fühlte, nicht aber dem Wohl seines Volkes.
»Ihr habt immer noch nicht erklärt, was diese Chimären sind«, warf Cara ein.
Richard spürte, wie die Brise beharrlich an seinen Haaren und an seinem goldenen Umhang zerrte, als wollte sie ihn drängen, weiterzugehen. Nur wußte er nicht, wohin. Hie und da stiegen Käfer über dem feuchten Gras auf und zogen in der Luft ihre Kreise. Weit drüben im Osten, vor dem Hintergrund der sich auftürmenden Unwetterwolken, zogen Gänse als dunkle Punkte in einer wellenförmigen V-Formation dahin, Richtung Norden.
Seit das Thema bei der Hochzeit aufgekommen war, hatte Richard keinen ernsthaften Gedanken an die Chimären verschwendet. Zedd hatte ihre Besorgnis als unbegründet abgetan, außerdem waren Richard andere Dinge durch den Kopf gegangen.
Später jedoch, nachdem besagtes Huhn vor dem Seelenhaus getötet und Juni ermordet worden war und ihm das Hühnerwesen jedesmal eine Gänsehaut bereitete, sobald es sich in seiner Nähe zeigte, und nachdem Zedd ihm einige ergänzende Informationen gegeben hatte, hatte ein wachsendes Gefühl des Unbehagens Richard bewogen, sich so gut es irgend ging an alles zu erinnern, was mit den Chimären in Zusammenhang stand. Damals hatte er Kolos Tagebuch nach Lösungen zu anderen Problemen durchforstet und nicht ausdrücklich auf Hinweise geachtet, die die Chimären betrafen, doch dank seiner fast niemals nachlassenden Konzentration und einer manchmal geradezu tranceähnlichen Anstrengung war ihm vieles im Gedächtnis geblieben.
»Bei den Chimären handelt es sich um Wesen, die in der Unterwelt entstanden sind. Um ihnen den Zugang in die Welt des Lebendigen zu ermöglichen, muß die Huldigung durchbrochen werden. Da sie aus der Unterwelt stammen, werden sie ausschließlich durch die Subtraktive Seite heraufbeschworen und erzeugen durch ihre Anwesenheit in dieser Welt ein Ungleichgewicht. Magie jedoch verlangt nach Ausgewogenheit. Da sie vollkommen subtraktiv sind, benötigen sie für ihr Hiersein Additive Magie, um in dieser Erscheinungsform überhaupt existieren zu können, denn das Sein selbst ist eine Form Additiver Kraft. Darum entziehen die Chimären dieser Welt Magie, solange sie sich hier
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