Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
gestreckten Armen. Wenigstens hatten sie sie ihr nicht auf dem
Rücken, sondern vorne angelegt. Vorsichtig versuchte sie, sich in dem engen
Raum zu bewegen und rollte langsam zur Seite, um ihre unbequeme Lage wenigstens
etwas zu erleichtern. Dann hob sie ihre Arme und zog das
schmierige Tuch aus ihrem Mund. Befreit atmete sie auf.
Dass sie sich im Kofferraum eines Wagens befand, hatte sie längst
begriffen. Mühsam versuchte sie jetzt, ihre brennenden und verklebten Augen zu
öffnen. Auch ihre Nase brannte. Nachwirkungen der Überreizung durch das
Betäubungsmittel. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel. O.k.
Lektion drei. Was war Lektion drei? Ach ja, gab es Schwachstellen bei den
Entführern oder an dem Ort, an dem sie gefangen gehalten wurde? Irgendwelche
Fluchtmöglichkeiten? Eigentlich keine, wenn sie nicht mit gefesselten Händen aus
einem fahrenden Auto springen wollte, überlegte Lucie.
Das führte zu Lektion 4: Was kann ich tun, um meine Situation zu
verbessern? Handschellen waren Lucie durch Jules Training vertraut und zunächst
versuchte sie an eine ihrer beiden Haarklammern heranzukommen, ohne die sie
seit damals nicht mehr das Haus verließ. Eine hatte sie wohl beim Kampf in der
Küche verloren, ebenso wie einen Ohrring, aber die andere Haarklammer war da.
Einige Schrecksekunden lang verlor sie sie im Dunkeln, konnte sie aber wieder
ertasten. Sie steckte sie sich in den Mund, hob ihre Hände und versuchte sich
zu erinnern, was Jules ihr beigebracht hatte. Die Arbeit in dem sich bewegenden
Wagen erwies sich als schwierig, und sie hoffte nur, dass die Entführer nicht
anhielten und nach ihr sahen, bevor sie es geschafft hatte. Es kam ihr wie eine
halbe Ewigkeit vor, bis sich die Handschellen endlich mit einem leisen Klick
öffneten. Nachdem Lucie diese losgeworden war, bewegte sie ihre
Handgelenke hin und her, um die stockende Blutzirkulation wieder in Schwung zu
bringen. Das Kribbeln in ihren Fingerspitzen tat gemein weh. Der Wagen rumpelte
mit hoher Geschwindigkeit über eine lädierte Landstraße und sie konnte spüren,
dass sich ihr Körper während ihrer Bewusstlosigkeit unzählige Male in dem engen
Raum gestoßen hatte. Sie stemmte sich mit ihren Beinen fest gegen eine Wand,
was ihr wenigstens die Illusion von etwas Halt vermittelte. Dann bemühte sie
sich, im Halbdunkeln irgendetwas zu erkennen, was ihr Auskunft über die Marke
des Wagens geben könnte. Sie wagte kaum zu hoffen, dass sie in einem Wagen
amerikanischen Fabrikats gefangen gehalten wurde. Jules hatte ihr erklärt, dass
sich die Kofferräume aller Fahrzeuge amerikanischer Herkunft aus
Sicherheitsgründen auch von innen öffnen lassen mussten. Aber selbst wenn es
ein anderes Fahrzeug war, sie hatte immer noch ihre Haarnadel. Jules hatte
solche Dinge ausgiebig mit ihnen geübt und dankbar dachte sie daran zurück,
obwohl sie es damals als ziemlich unangenehm empfunden hatte, stundenlang in der
schwülen Hitze Beiruts in einem Kofferraum zu kauern. Hoffentlich konnte sie
sich noch an die genauen Handgriffe erinnern. Falls es ihr gelang, konnte sie
vielleicht bei einem Halt jemanden auf sich aufmerksam machen oder sogar
fliehen. Fieberhaft tastete sie die Unterseite des Deckels nach dem kleinen
Hebel ab und fand diesen tatsächlich. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, endlich
eine gute Nachricht.
Das
führte zu Lektion Nummer 5: Sammele so viele Informationen wie möglich und
versuche alles über deine Umgebung und deine Entführer in Erfahrung zu bringen.
Leise betete Lucie Jules Instruktionen herunter: Horche auf ihre Stimmen, wie
viele Männer oder Frauen sind es? Wer ist der Anführer? Klingen die Stimmen alt
oder jung? Achte auf die Sprache, irgendwelche hörbaren Dialekte? Nannten sie
sich gegenseitig beim Namen, Zeiten, Orte? Besondere Gerüche? Außengeräusche?
Straßenschranken? Kirchenglocken oder Tiergeräusche? Das Rauschen von Wasser,
das auf einen nahen Fluss hindeutete? Straßenbeschaffenheit? Asphalt, Feldweg,
viele Kurven?
In
Ermangelung etwaiger anwesender Entführer blieben Lucie nur die momentanen
Geräusche, was die Aufgabe im Kofferraum eines Wagens, der sich fortbewegte,
doch sehr einschränkte. Immerhin konnte sie sich sicher sein, dass sie sich auf
einer holprigen und wenig befahrenen Landstraße befanden. Aber jede Fahrt
endete irgendwann. Lucie wollte dann ihre Chance auf jeden Fall nutzen. Der
Augenblick kam früher, als sie dachte, kurz darauf bog der Wagen scharf und mit
überhöhter
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