Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
verschonen. Hektisch fummelte
sie an dem sperrigen Riegelverschluss der Holztüre herum, er hatte sich
verklemmt. Ausgerechnet. Endlich gab er nach und Lucie hastete panisch den Flur
entlang, als bereits ein zweiter und ein dritter Schuss fielen.
Verdammt,
sie kam zu spät. Sie hatten Anna bereits getötet.
Lucie
stürzte um die Ecke und bremste abrupt ab. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Anna stand in die linke Ecke der weit geöffneten Eingangstüre gepresst, stützte
eine riesige Schrotflinte auf ihrer mageren Hüfte ab und lud diese mit Patronen
aus ihrer Schürzentasche nach. Sie hatte Lucie hinter sich gehört und zischte
ihr über die Schulter hinweg zu. "Bleib bloß in Deckung, Mädchen. Ich habe
das feige Schwein erwischt, das auf meinen Alfredo geschossen hat. Das andere
Schwein versteckt sich hinter dem Auto."
Plötzlich
erklangen weitere Schüsse, von denen einige nur die Hausmauer, einer aber auch
den Türstock traf. Hastig zog Anna den Kopf ein. Ohne ihre Deckung zu
verlassen, hob die Alte ihre Schrotflinte, schob sie um den Türstock herum und
antwortete mit einer Breitseite in Richtung des Wagens der Entführer. Aus ihrer
Deckung heraus konnte sie nicht richtig zielen, ohne sich selbst in Gefahr zu
begeben. Mehrere metallisch heulende Einschläge waren zu hören und zeigten an,
dass sie den Wagen getroffen hatte. Das reichte aus, um den Mann vorerst in
Deckung zu halten.
"Ich
habe eine Idee, Mädchen. Komm ganz langsam her zu mir. Halt´ dich an die rechte
Flurwand, der Mann kann dich von dort nicht sehen." Als Lucie sich kurz
danach hinter ihr an die Wand presste, flüsterte Anna: "Kannst Du mit
einer Flinte umgehen, Mädchen?"
Lucie
konnte nur nicken, völlig überwältigt über die Verwandlung der alten Frau von
einer gluckenhaften Matrone in eine kriegerische Amazone.
Anna
war soeben dabei, mit flinken Fingern die Schrotflinte neu zu laden. Dann
drückte sie sie ihr ohne zu zögern in die Hand: "Wenn der Mistkerl sich
bewegt, einfach diesen Hebel anziehen."
"Was
hast du jetzt vor?", fragte Lucie in einem Anflug von Panik, da Anna alle
Anstalten machte, sie allein an der Haustüre zurückzulassen.
"Im
Wohnzimmer ist noch ein Gewehr. Vielleicht erwische ich damit das
Faschistenschwein vom Wohnzimmerfenster aus. Wenn ich laut "Jetzt"
rufe, schieß einfach wild drauf los, Mädchen, o.k.?" Mit dem Elan eines
jungen Mädchens und der Entschlossenheit eines Feldwebels huschte Anna davon.
Lucie
konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. Im Gegensatz zu Anna zitterten ihre
Hände. Sie atmete einmal tief Luft und Mut ein und schob dann Millimeter um
Millimeter die schwere Schrotflinte um die Ecke herum. Vorsichtig blinzelte sie
nach draußen, um sich wenigstens etwas zu orientieren. Prompt feuerte der Fummler
kurz hintereinander mehrere Schüsse auf sie ab. Sofort zuckte sie zurück in
ihre Deckung. Sie hob die Flinte in der gespannten Erwartung, dass Anna ihr
jeden Moment das Zeichen zu ihrem Ablenkungsmanöver geben würde.
"Jetzt",
brüllte es kurz darauf aus dem Wohnzimmer. Blindlings legte Lucie an und schoss
die ganze Ladung leer, um dann erschöpft inne zu halten. Ihre Ohren schmerzten
von der Knallerei und sie war sich nicht sicher, ob sie jetzt vielleicht taub
war. Plötzlich packte sie jemand an der Schulter und sie fuhr erschrocken
herum. Es war Anna. Sie hielt ein modernes Jagdgewehr mit Zielfernrohr wie ein
kleines Baby in ihrer Armbeuge und betrachtete es mit liebevollem Blick.
"Es gehörte Alfredo. Er hat mir immer verboten, es anzufassen." Eine
einzelne Träne löste sich aus ihrem rechten Auge und rollte langsam über die
zerfurchte Wange hinab.
Sie
sah zu Lucie hoch, die sie um mehr als einen Kopf überragte: "Es ist
vorbei. Ich habe gesehen, wie der Bandit abgehauen und den Hügel runter ist.
Schade, ich dachte eigentlich, ich hätte ihn erwischt. Sie stapfte hinaus.
Lucie trottete ihr wie ein Hündchen hinterher. Tatsächlich fühlte sie sich auch
so - hundeelend. Immerhin hatte sie Alfredos Mörder hierher gelockt. Was konnte
man in solch einer Situation Tröstendes zu einer Mutter sagen, deren Sohn
gerade vor ihren eigenen Augen erschossen wurde?
Draußen
stach ihr als erstes ein totes Huhn ins Auge, das inmitten einer Wolke von
Federn lag, von denen noch ein paar, vom leichten Wind bewegt, langsam zu Boden
schwebten. Das Huhn lag zwischen der Haustüre und dem Wagen und hatte scheint’s
eine Ladung von ihrem zuletzt abgefeuerten Schrot abbekommen. "Na
toll", dachte Lucie.
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