Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
ein Blitzschlag. Mein Gott,
Lukas hatte sich tatsächlich in großer Gefahr befunden. Ihm war etwas
zugestoßen. Hatten sie seit frühester Kindheit nicht immer alles geteilt, sogar
ihre Blessuren? Ihr fiel wieder ein, wie sie sich innerhalb desselben Tages im
Abstand von wenigen Stunden und mehr als zwanzig Kilometer voneinander
entfernt, den linken Arm gebrochen hatten. Der Gedanke, dass ihrem Bruder
vielleicht etwas Ähnliches wie ihr zugestoßen sein könnte, trug nicht gerade zu
ihrem Seelenfrieden bei.
Ein
gedämpfter Klang riss Lucie abrupt aus ihren trübsinnigen Überlegungen und ließ
ihren Blutdruck nach oben schnellen. Ein Handy klingelte und es kam aus der
Richtung des Toten. Lucie stemmte sich mit Hilfe ihres aufsteigenden Adrenalins
hoch und verfolgte das Klingeln bis zur rechten Hosentasche des älteren
Wortführers zurück. Tapfer ignorierte sie den scheußlichen Gestank und fischte
das Telefon mit zwei Fingern heraus, peinlich darauf bedacht, weder den Mann
noch die Blutlache zu berühren. Dabei scheuchte sie ein braunes Huhn auf, das
sich dem Toten genähert und eifrig begonnen hatte, in dessen Haaren zu
scharren. Lucie überflog das neonblau aufleuchtende Display. Der Anruf erfolgte
anonym, das Display zeigte keinerlei Nummer an. Unschlüssig, was sie tun
sollte, suchten Lucies Augen Anna, aber diese war gerade dabei, ihrem Sohn
aufzuhelfen.
Entschlossen
drückte Lucie auf die Empfangstaste und meldete sich mit dem Wort, dass alle
Italiener zu sagen pflegten, wenn sie ein Gespräch entgegennahmen:
"Pronto."
Eine
barsche Stimme, eindeutig die einer Frau, herrschte sie aus dem Lautsprecher
an: "Wer sind sie?"
"Kleopatra.
Und wer sind sie?", flötete Lucie geistesgegenwärtig zurück.
Klick.
Die Person hatte aufgelegt.
"Was
ist? Wer war das?", Anna und Alfredo waren neben sie getreten.
"Merkwürdig."
Lucie runzelte die Stirn. "Da war eine Frau am Telefon und sie klang
ziemlich sauer.“
"Vielleicht
die Frau von einem der Entführer?", überlegte Anna laut, während Lucie das
Handy in ihrer hinteren Hosentasche verstaute für den Fall, dass es nochmals
klingeln sollte.
"Sag
mal Mädchen, warum hat man dich eigentlich entführt? Bist du reich oder berühmt
oder so etwas?", fragte Anna, weniger neugierig, vielmehr suchte sie nach
einer Erklärung, warum es Lucie überhaupt in ihre abgelegene Gegend verschlagen
hatte. "Husch." Mit einem angedeuteten Tritt verscheuchte Anna das
zurückgekehrte, vorwitzige Huhn vom Kopf des toten Wortführers. Neben seinem
Ohr lag ein frisch gelegtes Ei. Anna hob es mechanisch auf, putzte es mit einem
Zipfel ihrer Schürze und steckte es ein. Auf ihrem Hof wurde nichts
verschwendet.
"Na
ja, man kann schon sagen, dass meine Familie vermögend ist. Aber ich denke
nicht, dass meine Entführung etwas mit Geld zu tun hat, sondern im Zusammenhang
mit einer Angelegenheit meines Bruders steht. Aber das ist eine lange
Geschichte, Anna, und furchtbar verworren. Bitte, könnten wir vielleicht wieder
ins Haus gehen? Mir ist ganz flau im Magen“, entschuldigte sich Lucie verlegen.
"Natürlich,
Mädchen", erwiderte Alfredo anstatt seiner Mutter. "Ich denke ein
Grappa wird uns jetzt allen gut tun.“ Alfredo ließ wohl nie eine Gelegenheit
für einen Grappa aus, jedenfalls konnte man dies dem Blick entnehmen, den Anna
ihrem Sohn jetzt zuwarf. Alfredo hakte seine Mutter und Lucie unter und gemeinsam
gingen sie ins Haus. Alfredo ließ sie kurz in der Küche zurück und versuchte
erneut die nächstgelegene Polizeistation anzuwählen, aber die Leitung war
entweder immer noch oder schon wieder belegt, was Alfredo zu einem ziemlich
lauten und häufig benutzten Kraftwort verleitete, dem italienischen Gegenstück
zu Goetz von Berlichingens unfeiner Aufforderung.
Anna
hatte bereits eine Flasche des italienischen Allheilmittels hervorgeholt und
schenkte ihnen großzügig drei Gläser ein. Beinahe wie von selbst fand der erste
Grappa den Weg in Lucies Magen, füllte diesen mit wohltuender, besänftigender
Wärme und weichte den Klumpen Angst in ihrem Magen etwas auf. Alfredo kippte
sein Glas gekonnt hinunter, seufzte selig und schickte sogleich ein zweites
hinterher, nachdem er auch Lucie und seiner Mutter nochmals eingeschenkt hatte.
Dann meinte er: "Versuch` du es weiter bei der Polizei, Mama. Ich möchte
diese Kanaille so schnell wie möglich von meinem Hof haben. Fräulein Lucie
bringe ich allerdings selbst nach Monte Bello. Ich zieh mir kurz etwas anderes
an, dann fahren wir."
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