Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
zauberte.
"Besser,
Liebes?", fragte Anna sie mit einem kleinen Lächeln. "Hast du Hunger?
Soll ich dir vielleicht noch ein Schinkenbrot machen?"
"Nein
Danke, Anna. Du bist so gut. Ich hatte vorhin meinen Bruder Lukas erwähnt. Ich
glaube, ihr beiden würdet euch sehr gut verstehen. Weißt du, Lukas ist mehr als
nur mein Bruder, er ist mein Zwilling und er weiß sicher schon Bescheid, dass ich
entführt worden bin. Ich fühle, dass er sehr in Sorge um mich ist. Darf ich
nochmals versuchen ihn anzurufen?"
Aber
es war einfach wie verhext. Wieder bekam sie keine Verbindung zu Rabeas Handy.
Entmutigt ließ Lucie Hörer und Kopf sinken. Anna hatte Lucies erfolglose
Versuche mitbekommen. Sie stand im Türrahmen der Küche und trocknete ein Glas
mit einem Geschirrtuch ab. "Mach dir nichts draus, Mädchen. Alfredo wird
gleich kommen und mit dir zur Polizei fahren. Ich komme hier schon alleine
klar. Außerdem kenne ich den Capitano der Polizei, seit er ein Baby war."
Doch
Lucie hatte inzwischen nachgedacht und beschlossen, die alte Bäuerin
keinesfalls alleine auf dem Hof zurückzulassen: „Nein, Anna. Entweder du kommst
mit uns mit oder wir bleiben alle hier und warten zusammen auf die Polizei. Der
Entführer, der entkommen ist, ist vielleicht noch irgendwo da draußen und er
ist bewaffnet. Die haben das nicht alleine geplant. Ich hörte sie von ihrem
Boss sprechen. Was ist, wenn er mit Verstärkung zurückkommt?“
"Ein
Grund mehr, dass du sofort von hier verschwindest, Mädchen. Ich habe keine
Angst vor denen, aber dafür ein gutes Gewehr. Sollen sie sich nur her trauen,
diese Faschistenschweine. Diesmal bin ich auf sie vorbereitet", erwiderte
Anna grimmig, griff nach Alfredos Jagdgewehr und schwenkte es kriegerisch.
Die
wilde Entschlossenheit Annas entlockte Lucie ein Lächeln. Mit der alten Bäuerin
war tatsächlich nicht gut Kirschen essen. Da Anna die Mörder ihres Sohnes
bereits mehrmals als „Faschistenschweine“ beschimpft hatte, hegte Lucie einen
bestimmten Verdacht.
"Sag
Anna, wie kommt es, dass du so gut mit Gewehren umgehen kannst?"
"Ach,
die Antwort ist einfach“, Anna zuckte mit den mageren, von der harten Arbeit
gebeugten Schultern. „Daran ist der letzte, verdammte Krieg schuld. Die
Faschisten hatten 1943 meine ganze Familie getötet. Ich war damals kaum 12
Jahre alt, alleine, halb verhungert, verzweifelt und ohne jegliche Hoffnung. So
fand mich Enrico, mein späterer Mann und Alfredos Vater. Er gehörte dem
Widerstand an und nahm mich mit. Die Partisanen wurden meine neue Familie.
Enrico hat mir das Schießen und das Kämpfen beigebracht und, was noch sehr viel
wichtiger war: dass man niemals im Leben aufgeben darf. Das Leben ist viel zu
kostbar, der Herrgott selbst hat es uns geschenkt. Enrico hat mich den Glauben
und die Liebe gelehrt und dass beides nicht ohne einander existieren kann.
Beides ist eins. Mein Mann hat damals so vielen Menschen geholfen und ihnen die
Hoffnung zurückgegeben. Aber das ist schon lange her", seufzte Anna leise.
Für eine kleine Weile schien sie in einer fernen, glücklichen Vergangenheit zu
verweilen und die Erinnerung daran beschwor ein Leuchten herauf, das wie ein
Lichtstrahl über das alte, zerfurchte Gesicht glitt und auf geheimnisvolle
Weise verjüngte. Für einen kurzen magischen Moment glich Anna wieder der jungen
Braut auf dem verblichenen, schwarzweißen Hochzeitsbild auf der Kommode.
"Du
warst also eine richtige Partisanin und hast gegen Mussolini und die Faschisten
gekämpft?", meinte Lucie beeindruckt.
"Ja,
und auch gegen die Deutschen", antwortete Anna mit einem weiteren,
traurigen Lächeln. "Aber wie gesagt, Mädchen, das ist schon ewig her.
Kümmern wir uns um das Hier und Jetzt. Also, hör zu. Ich mag mich irren, ich
bin eine alte Frau, aber ich spüre ein gewisses Kribbeln und meine lange
Erfahrung hat mich gelehrt, darauf zu achten. Ich möchte, dass du dich jetzt
gleich in Alfredos Wagen setzt und von hier verschwindest. Ich kenne unseren
Capitano, den kleinen Benini. Er ist nicht dumm, aber in letzter Zeit ein wenig
fett geworden, der Gute. Bis der mal in die Gänge kommt, hab ich schon zweimal
meine Schweine gefüttert. Vielleicht liege ich falsch, aber sicher ist sicher.
Darum geh bitte mit Alfredo. Tue es mir und vor allem deinem Zwillingsbruder
zuliebe, si?"
Annas
eindringlicher Appell verfehlte nicht seine Wirkung. Lucie vermisste Lukas,
seine unerschütterliche Ruhe und Ausgeglichenheit und das Gefühl von
Sicherheit, das er ihr seit
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