Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Olivo hegte sofort den richtigen Verdacht
und erkundigte sich als erstes nach dem weißen Lieferwagen von Alfredo Sassi,
der gut sichtbar am Rande der Straße stehen sollte, aber das Fahrzeug war
verschwunden. Olivo fügte sich in das Unvermeidliche, da er weder Zeit noch
Leute hatte, um die junge Frau zu verfolgen, deren Aussage er für sein
Protokoll benötigte. Er würde sich später darum kümmern. Immerhin hatte er fürs
erste die Aussagen von Anna und ihrem Sohn. Stattdessen beorderte er den
Krankenwagen zu sich auf den Berg, damit sich die Sanitäter um seinen Kollegen
Pitti und um die beiden festgesetzten Ganoven kümmern sollte. Den einen hatte
es übel erwischt, aber der andere hatte nur einen Steckschuss in den
Oberschenkel abbekommen und konnte problemlos verhört werden. Alfredo und Anna
selbst waren ohne einen Kratzer geblieben. Der Steckschuss ging im Übrigen auf
Annas Konto. Der Krankenwagen traf wenige Minuten später ein, gefolgt von der
angeforderten polizeilichen Verstärkung aus Chieti.
Im
Wohnzimmer herrschte mehr Betriebsamkeit und Lautstärke als bei einem
Kindergeburtstag. Allerdings fehlte die damit einhergehende Ausgelassenheit.
Kurz
nachdem Rabea und Lukas zurückgekehrt waren, traf auch von Stetten senior aus
Nürnberg in Rom ein. Der alte Patriarch, der von der italienischen Obrigkeit
nicht viel hielt, geschweige denn vor hatte, ihnen weiterhin die Sicherheit
seiner Tochter Lucie zu überlassen, hatte den Leiter seines Werkschutzes, einen
Engländer namens James Fonton, ehemaliges Mitglied der englischen
Spezialeinheit SAS, sowie mehrere Sicherheitsmitarbeiter gleich mitgebracht.
Die Männer trugen trotz der Hitze langärmelige weite Blousons und den in ihrer
Branche üblichen, blasiert-nichtssagenden Ausdruck zur Schau. Als der alte von
Stetten das in der Wohnung herrschende, dichte Gedränge sah, schickte er zwei
der Männer zurück nach unten zu ihrem Wagen.
Zusammen
mit dem Commissario Grassa, Pater Simone, dem kleinen Anwalt Pierangeli und der
unvermeidlichen Carlotta van Kampen, die in ihrem pinkfarbenen Kostüm auf dem
weißen Sofa thronte wie ein bunter Faschingskrapfen, drängten sich insgesamt
zehn Personen auf engstem Raum zusammen. Das Zimmer war heiß und stickig und
allen lief der Schweiß in Strömen. So unterschiedlich der zusammengewürfelte
Haufen im Raum auch sein mochte, die gemeinsame Sorge um Lucie von Stetten
einte sie wie die Jungfer mit ihrem Galan und weder die Hitze noch die Enge schien
irgendjemanden zu stören.
Seit
Stunden warteten die Anwesenden auf ein Zeichen der Entführer und die
ohnmächtige Untätigkeit ließ die Nerven aller vibrieren. Die Wartenden
versuchten, die kollektiv-lähmende Hilflosigkeit dadurch zu kompensieren, dass
sie alle mehr oder weniger wild in deutscher, italienischer oder englischer
Sprache durcheinander spekulierten und so ein beinah undurchdringliches,
babylonisches Sprachgewirr schufen. Es wurde geredet und geredet, aber im
Grunde nicht viel gesagt und alle waren so sehr in ihr jeweiliges Gespräch
vertieft, dass niemand den Neuankömmling in der Tür bemerkte.
Mit
Stellina auf dem Arm lauschte dieser erstaunt dem aufgeregten Stimmengewirr, in
dem hier und da kleine Sprachfetzen auszumachen waren: "Wenn Lucie
irgendetwas passiert ist, ich schwöre Ihnen, ich jage die feigen Mistkerle um
den ganzen Erdball ..." verkündete die beherrschte Stimme des alten von
Stetten auf Englisch an die Adresse seines Sicherheitschefs.
"Vielleicht
wäre es jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Gebet. Hoffnung ist der Balsam der
Seele", dröhnte hörbar der sonore Bass Pater Simones auf Italienisch. Er
legte die Arme rechts und links um die Schultern von Rabea und Lukas, die
allein am Fenster standen und in eine heftige Diskussion verstrickt waren. Die
Unterbrechung ihres Gespräches brachte Pater Simone einen zornig funkelnden
Blick Rabeas ein, die augenscheinlich der Meinung war, dass das Letzte, was ihr
jetzt in den Sinn käme, ein Gebet wäre. Lukas griff beschwichtigend ein, bevor
Pater Simone an Leib und Seele Schaden nehmen konnte.
"Aber
meine Herren, meine Herren, nicht so laut, ich bitte sie, sonst überhören wir
womöglich noch das Telefon", meldete sich Carlotta laut zwitschernd mit
ihrem holländischen Akzent.
Commissario
Grassa wiederum herrschte einen Unbekannten durch sein Handy an und ließ seine
üble Laune an dem Unglücklichen aus.
Die
Person an der Türe beschloss, dass es an der Zeit war, dem ein Ende zu
bereiten:
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