Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Empfindungen absorbiert zu haben. Gierig saugte die Furcht sein
bisheriges Selbst in sich auf und spie ihn als seelenlose Hülle zurück. Es war
wie eine offene Wunde, durch die unaufhörlich weitere, lähmende Angst in ihn
einsickern konnte. Unfähig, in diesen Stunden zu beten, blieb dem jungen
Priester zum ersten Mal in seinem Leben der tröstende Beistand Gottes versagt.
Darüber
hinaus wurde die nervöse Unruhe der drei durch den Konsum von viel zu viel
Koffein angeheizt. Angetrieben von unnützer Aktivität war ständig jemand in den
kahlen Korridor gerannt, um weiteren, schal schmeckenden Kaffee aus dem
Automaten zu ziehen. Die kleinen Plastikbecher türmen sich inzwischen vor ihnen
auf dem Glastisch. Endlich öffnete sich die Türe und ein sichtlich erschöpfter
Arzt erschien. Er trug noch immer seine blutverschmierte OP-Kleidung und zerrte
sich beim Hereinkommen die Maske vom Gesicht. Rabeas Blut, dachte Lukas
schaudernd und fror trotz der Hitze. Wie ein hungriger Löwe stürzte er sich
sofort auf ihn. Der Chirurg schien Attacken von unter Angsttraumata leidenden
Angehörigen gewohnt zu sein. Routiniert stemmte er sich Lukas entgegen.
"Beruhigen Sie sich. Es ist alles gut gegangen. Wir konnten die Kugel
entfernen. Sie hat zwar ein Blutgefäß nahe am Herzen getroffen, aber das Herz
selbst ist unbeschädigt geblieben. Die Patientin hat viel Blut verloren, aber
es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Die Signorina schläft jetzt. Fahren
Sie nach Hause und kommen Sie heute am frühen Nachmittag wieder, dann können
Sie vielleicht zu ihr."
Lucie
war zu Lukas getreten und nahm ihn fest in die Arme. "Hast du gehört,
Lukas. Es geht ihr gut. So leicht lässt sich unsere Rabea nicht unterkriegen.
Komm, fahr zusammen mit Jules nach Hause. Du kannst tatsächlich eine Dusche
vertragen. Ich werde hier bleiben und dich sofort benachrichtigen, wenn sie
aufgewacht ist, o.k.?", bot sie an.
"Nein
danke, Lucie. Ich muss hier bleiben. Rabea braucht mich jetzt. Was ist, wenn
sie früher wach wird? Ich habe sie schon zu lange im Stich gelassen. Bitte lass
mich. Geh du nur mit Jules", erwiderte Lukas bestimmt und drückte seiner
Schwester einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
Lucie
verstand ihn nur zu gut und drängte nicht weiter. "Also gut. Dann fahren
wir kurz nach Hause, kommen aber in spätestens zwei Stunden mit Frühstück und
frischer Kleidung für dich zurück. Lukas...", Lucie zögerte einen Moment,
fuhr dann jedoch fort: "Wir sollten vielleicht daran denken, ihren
Großvater zu benachrichtigen. Er ist ihr einziger noch lebender Angehöriger. In
letzter Zeit ging es ihm gesundheitlich nicht besonders, darum wird er kaum
hierher kommen können, aber er sollte es wissen. Bitte vergiss nicht, du bist
nicht der Einzige, der Rabea liebt. Kümmerst du dich bitte darum, ja?"
Lucie
hatte natürlich Recht. Die Erkenntnis, Rabeas Großvater völlig vergessen zu
haben, ließ ihren Zwillingsbruder betreten die Augen niederschlagen. Lucie
registrierte zufrieden seine Reaktion. Sie drückte ihm einen liebevollen
Abschiedskuss auf die Wange und gleichzeitig ihr Mobiltelefon in die Hand. Dann
verließ sie gemeinsam mit Jules den Raum.
Lukas
ließ sich auf die Couch fallen und schlug die Hände vor sein Gesicht. Er
schämte sich, gleichsam musste er Mut sammeln für das Gespräch mit dem Rabbi.
Der alte Herr konnte sehr direkt werden. Doch Lukas wusste, dass er sich durch
seinen Egoismus eine Standpauke redlich verdient hatte. Die Nummer des
Anschlusses in dem kleinen Häuschen am Rande Nürnbergs, das Rabeas Kindheit
gesehen und in dem er früher so häufig zu Gast gewesen war, hatte sich
unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Nach dem zweiten Klingeln meldete
sich die Stimme des alten Rabbi Rosenthal. Trotz der frühen Stunde war er
bereits auf den Beinen. Er freute sich sichtlich über Lukas Anruf. Dann hörte
seinen Bericht aufmerksam an. Er ließ sich danach keinerlei Missmut anmerken,
dass Lukas ihn mit beträchtlicher Verspätung über den Zustand seines einzigen
Enkelkindes unterrichtet hatte. Er hatte nur eine Bitte an den jungen Mann, nämlich
dass Lukas Rabea, wenn sie aufwachte, in seinem Namen etwas ausrichten sollte.
Lukas wiederum versprach, sich sofort bei ihm zu melden, wenn es etwas Neues
über Rabeas Zustand gäbe. Nach dem Gespräch fühlte er sich erschöpft und
einsamer denn je. Schmerzlich wurde ihm bewusst, wie gut ihm allein die
beruhigende Anwesenheit seiner Schwester getan
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