Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
abzuwenden, schwang sich Ignazio Bentivoglio in den Einstieg
und setzte seinen schweren Stiefel auf die erste Sprosse. Nicht nur, dass er
als Kind in den Grotten der Gegend gespielt hatte, während seiner Zeit im Nahen
Osten hatte er einige Höhlen-Expeditionen unter die Erde mitgemacht; Dunkelheit
und Enge setzten ihm im Gegensatz zu den meisten Menschen nicht im Geringsten
zu.
Später würde er sich in vielen schlaflosen Nächten oft an
Giuseppes Warnung in jener schicksalhaften Nacht erinnern und sich immer wieder
selbst damit martern, dass er damals nicht auf seinen Bruder gehört hatte.
Dabei war es eine Nacht, die bereits alle Anzeichen dunkler Geschehnisse in
sich trug: Das heimliche Treffen zweier ungleicher Brüder, der eine Handwerker,
der andere ein Priester, in dem bereits die verderbliche Saat des Ehrgeizes
wirkte, ein Wind und Regen peitschendes Unwetter in stockfinsterer Nacht und eine
geheimnisvolle Höhle, die nach Verwesung stank und tief in das Innere der Erde
führte. Warum hatte Ignazio nicht gespürt, was sein Bruder gespürt hatte? Wo
waren seine Instinkte an diesem Abend?
Die einzige, traurige Erklärung, die Ignazio später hierfür fand
war, dass die Sucht nach Ruhm ein gar zu machtvolles Gefühl ist, und er zu
schwach gewesen war, ihr zu widerstehen. Unerbittlich hatte sie ihn an jenem
verhängnisvollen Abend in ihre Fänge gezwungen. Ignazio hätte die Vorzeichen
des Schicksals wohl nicht einmal dann erkannt, wenn an diesem Abend der
kopflose Reiter mit donnernden Hufen direkt an ihm vorbeigaloppiert wäre.
Er wusste es noch nicht, aber der Abstieg unter die Erde
versinnbildlichte in dieser Nacht Ignazios direkten Abstieg in die Hölle, ein
lebenslanger Alptraum nahm hier seinen Anfang, der erst mehr als dreißig Jahre
später sein Ende finden würde.
Aber noch träumte Ignazio unbedarft vom Ruhm künftiger
Entdeckungen. Während er hinabkletterte, zählte er die Sprossen und kam auf
sechsunddreißig. Je tiefer er stieg, umso mehr nahm der Gestank zu. Nach
ungefähr fünf Minuten hatte er den ebenen Boden erreicht. Im Licht der
Taschenlampe erkannte er, dass das Ende der Leiter in einen engen, runden Raum
mit groben Felswänden endete. Gegenüber der Leiter erstreckte sich ein langer,
niedriger Gang, kaum mannshoch, der sich leicht schlängelnd im Dunkeln verlor.
Ignazio warf einen Blick nach oben, wo er schwach die Umrisse seines Bruders im
Licht der Taschenlampe erkennen konnte. Mit einem kurzen Blinken gab er ihm zu
verstehen, dass er den Boden sicher erreicht hatte. Als er sich wieder umwandte,
erregte im Lichtkegel etwas seine Aufmerksamkeit. Er leuchtete die Wand genauer
an und entdeckte eine kleine Nische, die ebenfalls in den groben Fels
hineingeschlagen worden war. In der kleinen Spalte befand sich etwas. Es schien
ein kastenförmiger Gegenstand zu sein. Neugierig trat Ignazio näher und stellte
fest, dass es sich um eine kleine Truhe handelte, nur gesichert mit einem
einfachen Schnappschloss. Zweifelnd fragte sich Ignazio, ob es tatsächlich so
einfach sein sollte und überlegte, ob es sich hier um eine Falle handeln
könnte. Sobald er die Truhe bewegte, würde sich vielleicht der Boden unter ihm
öffnen und verschlingen? Da er Orientalistik studiert hatte, wusste er, dass es
im alten Ägypten in antiken Gräbern eine Reihe ungewöhnlicher Fallen gegeben
hatte, um Grabräuber an ihrem Vorhaben zu hindern. Nicht selten waren die
Fallen tödlich gewesen. Ignazio schalt sich einen Feigling, leuchtete aber
trotzdem den Boden um sich herum nach einem verborgenen Fallgitter ab. Lieber
vorsichtig als tot. Doch er konnte nichts erkennen, er stand fest auf purem
Fels. Er warf alle weiteren Bedenken über Bord und griff begierig mit beiden
Händen nach der kleinen Truhe. Verblüfft stellte er fest, dass sie sich nicht
im Geringsten von der Stelle rührte. Er richtete seine Taschenlampe auf sie,
und ihm fiel jetzt auf, dass die kleine Truhe aus purem Blei gegossen schien.
Deshalb hatte er sie nicht anheben können. Entsprechend vorgewarnt griff
Ignazio abermals nach ihr und wuchtete die Truhe aus der Nische auf den Boden.
Ungeduldig öffnete er das Schloss und hob den Deckel an. Der Inhalt enttäuschte
ihn. Die Truhe war bis auf einen Briefumschlag leer. Ignazio griff nach dem
Umschlag, der noch mit rotem Wachs versiegelt war. Ein einziger Blick genügte
Ignazio, um zu erkennen, dass es sich um das Wappen der di Stefanos handelte,
dem Adelsgeschlecht, dem die Burg einmal gehört
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