Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
hatte.
Ignazio wusste, dass die di Stefanos im Mittelalter zu den
mächtigsten Familien in Italien gezählt hatten. Ihr Einfluss hatte auch vor den
höchsten Fürstenhäusern und dem Vatikan nicht Halt gemacht. Jedoch waren sie im
18. Jahrhundert angeblich in einige heftige Skandale verstrickt, man
munkelte von einer Familientragödie bis hin zum Mord. Bald darauf waren sie in
der Bedeutungslosigkeit versunken, ihr Geschlecht ausgestorben. Ignazio, unfähig,
seine Ungeduld zu zügeln, erbrach das Siegel an Ort und Stelle und las.
„Fremder,
der du diesen Brief gefunden und das Siegel erbrochen, wisse, dass
du nun umkehren solltest.
Denn Gott in seiner allmächtigen Güte wird in ferner Zeit selbst
den Tag bestimmen, an dem das Licht der Wahrheit das Dunkel der Lüge besiegen
wird.
Denn, so steht es geschrieben, nur einem Wesen von reinster Seele
ist es vorherbestimmt, die Wahrheit der Christenheit zu offenbaren. Setzt du
deinen Weg jedoch fort, sei gewarnt, Tod und Verderben harren deiner, denn
niemand war der schmerzlichen Prüfungen bisher gewachsen.
Denn es ist wahr, Hass verblendete die Liebe, Gier vergiftete die
Herzen, Bruder verriet den Bruder.
Fremder sei gewarnt, stürze Dich nicht in dein Unglück. Bezähme
Deine Neugier, bezähme deine Gier nach Macht und Ruhm. Kehre um und lass das
Geheimnis ruhen.
Sei dieser Worte eingedenk, kehre nicht vom rechten Wege ab, noch
ist Zeit. Kehre um und verbringe Dein Leben in Frieden.
Piero Alessandro
di Stefano
6. Dezember, im Jahr des Herrn 1775
Ignazio ließ den Brief sinken. Leichter Schwindel hatte ihn
erfasst und er musste sich haltsuchend einen Moment an die grobe Felswand
lehnen. Keine Sekunde zweifelte er an der Echtheit des Briefes. Welche Wahrheit
sollte der Christenheit offenbart werden? Warum wurde sie verborgen? Als Jesuit
wusste er natürlich, dass die Kirche aus den verschiedensten Gründen eine
Vielzahl von Geheimnissen hütete, aber wenn er hier auf ein bisher unbekanntes
Geheimnis gestoßen war, konnte dies, geschickt genutzt, seine Karriere fördern.
Von brennendem Ehrgeiz verblendet, verschwendete er nicht einen Augenblick an
die Warnung in dem Brief.
Für ihn bestand nicht der geringste Zweifel: Er war das Wesen
reinster Seele, dem es bestimmt war, das Geheimnis zu offenbaren.
Er, Ignazio Bentivoglio, war dazu auserkoren, Gottes Befehlen zu
gehorchen. Sein Herz raste, aber er rief sich selbst zur Ordnung. Nun hieß es
ruhig Blut bewahren und auf weitere Zeichen Gottes zu achten. Er legte den
Brief zurück in die Schatulle und warf einen kurzen Blick auf die Leuchtziffer
seiner Armbanduhr. Sie zeigte ihm an, dass es bereits kurz vor ein Uhr war. Er
legte die Hände wie einen Trichter um seinen Mund und rief nach seinem Bruder:
„Giuseppe, hörst du mich? Ich habe einen Gang gefunden und werde ihn
untersuchen. Spätestens um halb drei Uhr bin ich zurück, hast du verstanden?“
„Ja, ich bin ja nicht taub. Aber beeil´ dich. Ich will hier nicht
eine Minute länger als unbedingt nötig bleiben. Es ist unheimlich hier draußen“,
brummte es missmutig zurück.
„Meine Güte, dann setz dich doch solange in meinen Wagen. Der
Schlüssel steckt“, rief Ignazio ungeduldig. „Ich komme alleine zurecht.“
„Ist gut. Und sei bloß vorsichtig“, gab ihm Giuseppe als letzte
Warnung mit auf den Weg. Dann trollte er sich. Erst als er im Wagen saß und die
Autotüre fest hinter sich verschlossen hatte, fühlte er sich ein klein wenig
sicherer. Jedoch, die unbestimmte Furcht, die ihn vorhin so unvermittelt hatte
frösteln lassen, blieb.
Ignazios Vorschlag, dass Giuseppe sich ins Auto setzen sollte, war
nicht ganz uneigennützig. Da er nicht wusste, was er genau vorfinden würde, war
es ihm lieber, dass sein Bruder ihn nicht am Ausstieg der Grotte erwartete. Er
hatte vor, auf jeden Fall früher zurück zu sein. Das gäbe ihm die Möglichkeit,
einen eventuellen Fund unbemerkt in seinem Rucksack zu verstauen. Ehrgeiz und
Gier begannen sein Werk an ihm und er war bereit, seinen Bruder zu belügen und
zu betrügen.
Ignazio leuchtete ungefähr zwanzig Meter tief in den Grottengang
hinein. Dann brach sich das Licht an der Felswand, weil der Gang hier in eine
leichte Kurve nach links mündete. Gebückt tastete er sich an der Wand Schritt
für Schritt vor. Die Wände fühlten sich rau, aber kühl und trocken an. Das
Licht der Taschenlampe tanzte an den Felswänden entlang und warf seinen
Schatten bizarr verzerrt zurück. Er bemerkte, dass im
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