Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
etwas von der eigentlichen Wahrheit entfernend.
„Toll“, erwiderte Lucie und wirkte plötzlich sehr besorgt. „Hast
du schon einmal überlegt, Rabea, dass der Mörder vermuten könnte, dass
Bentivoglio Lukas davon erzählt hat? Dann wäre Lukas jetzt ebenso in Gefahr.“ Lucie
konnte nicht wissen, dass sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Seit geraumer Zeit bereits zerbrach sie sich den Kopf darüber, was der
verschwörerisch-flehentliche Blick zu bedeuten hatte, den ihr Bruder ihr kurz
vor seiner Abführung zugeworfen hatte. Nach wie vor konnte sie sich keinen Reim
darauf machen. Sie war sich jedoch sicher, dass Lukas ihr etwas hatte mitteilen
wollen, etwas, was sie tun sollte, nur was? Lucie hatte noch weitere Signale
von ihrem Bruder aufgefangen, nämlich, dass ihm bewusst war, wie sehr er in der
Bredouille steckte - was bei ihr unweigerlich zu der beunruhigenden Schlussfolgerung
geführt hatte, dass hinter seiner Verhaftung mehr stecken musste, als nur die
übereilt eifrige Handlung eines ehrgeizigen Kommissars. Sollte sie sich Rabea
anvertrauen und mit ihr über ihre Wahrnehmungen sprechen? Oder würde Lukas das vielleicht
nicht wollen?
„Keine Bange, Lucie“, unterbrach Rabea an dieser Stelle Lucies Überlegungen.
„Momentan ist Lukas bei der Polizei so sicher wie in Abrahams Schoß. Ich fasse
zusammen: Der Generalobere ist tot, sein Mörder wahrscheinlich jemand, der ihn
gekannt hat. Das Motiv vermutlich irgendein Geheimnis, von dem Bentivoglio als
Generaloberer wusste, der Mörder jedoch nicht riskieren konnte, dass
Bentivoglio etwas davon ausplauderte. Was hältst du davon, wenn wir…“
In diesem Moment klingelte das Telefon und unterbrach vorerst ihre
wilden Spekulationen.
Der Patriarch der Familie, Heinrich von Stetten und seine Frau
Evelyn saßen neben dem Gastgeberehepaar im Musikzimmer einer Villa in Grünwald,
einem noblen Wohnort vor den Toren Münchens, und lauschten andächtig einer Arie
aus La Traviata - dargeboten von dem neuen Star am Opernhimmel, einer
bildschönen Russin. Von Stetten senior war völlig in die Musik versunken und
zuckte deshalb zusammen, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte.
Ungehalten wandte er seinen Kopf und erblickte den kräftigen Butler der Familie
Fink, der durchaus bei jeder privaten Bodyguard-Agentur eine Beschäftigung
gefunden hätte. Von Stetten senior hatte den Verdacht, dass sein alter Freund
Fink ihn wohl genau da her hatte, angesichts der nicht unerheblichen Ansammlung
teurer Juwelen, die die eingeladenen Damen ausladend präsentierten. Der als
Butler getarnte Muskelmann beugte sich zu ihm herab und flüsterte: „Herr Baron,
eine dringende Nachricht für Sie. Sie möchten bitte sofort zu Hause in Nürnberg
anrufen.“
Seine Frau Evelyn schaute fragend zu ihm auf. Er drückte ihr
beruhigend die Schulter und flüsterte ihr das nächstbeste zu, das ihm einfiel,
nämlich, dass es sich um einen äußerst dringenden, geschäftlichen Anruf aus
Übersee handeln würde, auf den er schon lange gewartet habe. Sie bedachte ihn
mit einem Ausdruck stummen Leidens und schenkte ihrer Gastgeberin ein
entschuldigendes Lächeln. Beide Damen tauschten einen wissenden Blick, sie waren
wichtige geschäftliche Abberufungen ihrer Ehemänner zu allen Tag- und
Nachtzeiten gewohnt.
Von Stetten senior lockerte den steifen Kragen seines Smokings. Eine
leise Unruhe hatte sich seiner bemächtigt. Während er dem „Butler“ folgte,
dachte er an einen Tag vor neun Jahren zurück, als ihm jemand am Abflugschalter
des Nürnberger Flughafens in ganz ähnlicher Weise auf die Schulter getippt
hatte: „Entschuldigen Sie, bitte. Aber sind Sie Herr von Stetten?“
„Ja, um was geht es? Ich muss meinen Flug nach Frankfurt
erreichen.“
„Tut mir leid, Herr von Stetten. Würden Sie bitte mit mir
mitkommen? Ich habe ein dringendes Telefonat für Sie in meinem Büro. Es ist
Ihre Tochter.“
Jäh war von Stetten eine Ahnung überkommen. Als Vorstandschef
eines großen Konzerns, den er bereits seit mehr als drei Jahrzehnten mit
straffer Hand führte, verstand er sich bestens darauf, Feinheiten im Verhalten
von Geschäftspartnern abzuschätzen. Oft genug hatte er anhand winziger Nuancen
in der Stimmmodulierung mögliche Absichten im Voraus bestimmen können und sich
damit geschäftliche Vorteile gesichert.
In der Stimme des Polizisten hatte eine Spur von Mitleid
mitgeschwungen, die der bemüht amtliche Ton nicht ganz zu verdecken vermochte.
Von
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