Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Geheimnissen bestand. Ein letztes
Mal rekapitulierte Lukas das Gespräch mit seinem Generaloberen und dessen
schockierende Lebensbeichte, die ungewollt zu seiner letzten geworden war. Bis
vor drei Monaten, vor dem Mord an seinem Onkel, hatte seine Zukunft als ruhige
Konstante vor ihm gelegen, berechenbar wie der gleichmäßige, Jahrtausende
währende Fluss des Tibers durch die ewige Stadt Rom. Nun jedoch warfen die
Ereignisse der letzten Stunden und die Vorahnung kommender düsterer
Geschehnisse dunkle Schatten auf sein bisher von der Kirche klar definiertes
Dasein. Die Welt, wie sie für ihn Bestand hatte, existierte seit gestern nicht
mehr. Und doch hatte er bisher allen Schwierigkeiten und Anschuldigungen mit
der unerschütterlichen Ruhe und Gewissheit eines Mannes getrotzt, der fest an
die machtvolle Kraft der Wahrheit glaubte, die seine Unschuld ans Licht bringen
würde. Nun jedoch schien sich diese standhafte Gewissheit zu verflüchtigen wie
Luft, die langsam aus einem Ballon entweicht und in ihm nichts als ein flaues
Vakuum zurückließ, das sich nun mit jäher Angst füllte. Noch nie in seinem
Leben hatte er eine solch gewaltige, elementare Angst verspürt. Unerbittlich
und kalt wie Eis kroch sie an seinem Rücken empor, um sich überall mit
frostigen Tentakeln in seine Nervenbahnen zu bohren. Dieses Empfinden wurde
derart übermächtig, dass es ihn beinahe lähmte, doch dann flüsterte es ihm
einen ganz neuen Gedanken ein: War es tatsächlich nur Zufall, dass Rabea
genau in dem Moment aufgetaucht war, als die ganzen Schwierigkeiten begannen? Und warum wollte sie ausgerechnet Bentivoglio interviewen? Wusste sie
vielleicht mehr über die Angelegenheit als sie zugab? Sofort bereute Lukas
seine Verdächtigung. Selbstverständlich konnte Rabea nichts über Bentivoglios
Geheimnis wissen. Aber so war es immer gewesen, sobald sie in seiner Nähe war,
schien es, als ob in ihm schlummernde, schlechte Charaktereigenschaften
erwachen würden. Da, er tat es schon wieder. Wenn er sich auch nur in Gedanken
unethisch verhielt, natürlich, Rabeas Einfluss. Warum versuchte er jedes Mal
die Verantwortung, wenn etwas in seinem Leben schief gelaufen war, auf sie
abzuwälzen? Der junge Priester war sich selbst gegenüber ehrlich genug, seine
hässlichen Gedanken als das zu sehen, was sie waren: Das üble Produkt seines
männlich-dominant geprägten Unterbewusstseins. Sein unterbewusstes Ich
versuchte Rabea aus einem einzigen Grund schlecht zu machen: weil er gegen
seinen Willen sowohl körperlich als auch gefühlsmäßig noch immer auf sie
reagierte. Es war der ewig währende und mit ungleichen Mitteln geführte
Machtkampf zwischen Mann und Frau. Die Macht der Frau, seine Triebe zu steuern,
störte empfindlich seinen Anspruch auf die totale Kontrolle über das weibliche
Geschlecht. Hätte Rabea seine Gedanken auch nur im Ansatz erahnt, sie wäre ihm
zu Recht mit ausgefahrenen Krallen ins Gesicht gesprungen. Er warf einen kurzen
prüfenden Blick auf die beiden jungen Frauen. Der blaue und der grüne Blick
begegnetem ihm ruhig und klar. In stummer Zwiesprache tauchte Lukas tief in
Rabeas grüne Smaragde. Sie war immer noch da, ihre Fähigkeit, nur mit den Augen
miteinander zu kommunizieren, als ob eine Synapse am Gehirn des anderen
angedockt hätte. „Lass mich dir helfen“, sagten ihre grünen Sterne .
„Es ist
zu gefährlich“, antworteten die seinen.
„Ich habe
keine Angst.“
„Das weiß
ich, ich bin es, der Angst hat.“
Und wenn er Lucie und Rabea sofort in ein Flugzeug setzte und nach
Nürnberg verfrachtete?Oder noch weiter weg? Vielleicht in die USA, nach
Seattle, wo Lucie und er eine Großtante hatten? Aber würde das nach außen hin
nicht den Eindruck einer Flucht vermitteln, gleichzusetzen mit dem
Eingeständnis, dass er genau wusste, was auf dem Spiel stand? Von der völlig
unbedeutenden Tatsache abgesehen, dass keine Macht des Universums es fertig
bringen würde, Rabea und Lucie jetzt von ihm fernzuhalten. In diesem Tenor
wälzte und knetete er Pro und Kontra wie einen Hefeteig hin und her bis sein
Gehirn Blasen warf, und kam stets zu dem gleichen Schluss: dass Rabea Recht
hatte. Die Angelegenheit war soviel größer als er, und den Schwur hatte er
getan, bevor geschah, was geschah. Es lag an ihm, Bentivoglios Vermächtnis zu
erfüllen und dem Töten Einhalt zu gebieten. Je früher das Rätsel um sein
Geheimnis gelöst war, um so eher konnte er in sein altes Leben zurückkehren.
Rabea spürte, wie sich das
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