Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Raum
betreten, eine Art kollektives Köpfe wenden auslösen. Lukas von Stetten gehörte
dazu. Zunächst war man versucht, dies seinem guten Aussehen zuzuschreiben. Groß
und gut gewachsen, mit breiten Schultern, merkte man ihm die sportliche Betätigung
seit seiner frühen Jugend an. Er trug sein blondes, leicht gelocktes Haar kurz
geschnitten und aus seinem offenen Gesicht blickten einem ein Paar kluge, meerblaue
Augen entgegen, in deren ruhigen Tiefen man sich schnell verlieren konnte. Einzig die mehrfach gebrochene Nase trübte die Harmonie
seines Gesichts, Tribut an den während seiner Studentenzeit ausgeübten Boxsport.
Doch gerade das verlieh seinem für einen Mann ansonsten beinahe zu perfektem
Aussehen etwas Verwegenes. Der ganze Charme seiner Persönlichkeit offenbarte
sich dann, wenn man ihn näher kennenlernte. Er schien sich weder seines blendenden
Aussehens noch der besonderen Wirkung, die er auf seine Mitmenschen ausübte,
bewusst. Seines Platzes und seiner Bestimmung im
Leben sicher, begegnete er allen Menschen mit der gleichen natürlichen Würde. Manch
einer mochte es Charisma nennen, aber da war noch mehr: Lukas umgab eine Essenz
des Guten, eine Art Substanz der Anständigkeit. Und ein jeder, der ihm
begegnete, konnte dies sofort instinktiv spüren. In seiner Gegenwart fühlte man
plötzlich die unterschwellige Hoffnung in sich aufkeimen, dass man mit seiner
Hilfe ein besserer Mensch werden konnte.
Lucie
hingegen, von Stettens hinreißende und ältere Zwillingsschwester („fünf
Minuten, Lukas“), war sich ihres Aussehens und der Wirkung auf die Menschen,
insbesondere auf die männliche Spezies, sehr wohl bewusst. Wenn sie lachte,
blitzten ihre himmelblauen Augen vor Fröhlichkeit auf und ihr gesamtes Wesen drückte
geballte Lebenslust aus. Lucie war das, was man eine bezaubernde Schwester
Leichtfuß nannte, aber sie hatte ihr Herz am rechten Fleck. Auf ihren hohen
schlanken Gazellenbeinen fabrizierte sie einen derart verführerischen Gang,
dass sich die meisten Männer in ihrer Gegenwart sofort auf ihre niederen Triebe
reduzierten und in einen frühen Höhlenbalztanz verfielen. Dazu besaß Lucie den unwiderstehlichen
Tatendrang eines ganzen Stalles voller junger Kätzchen und hatte ihre beiden
Brüder Lukas und Alexander, ihre Eltern und die diversen Kindermädchen seit
ihrem ersten Atemzug nicht einen Augenblick zur Ruhe kommen lassen.
Egoistisch wie die Jugend ist und ohne einen Funken Sensibilität
für die Ängste der Eltern, die beinahe verrückt geworden waren vor Sorge, war
Lucie nach dem gemeinsam bestandenen Abitur, zusammen mit ihrer besten Freundin
Rabea Rosenthal für sechs Monate in Richtung Naher Osten verschwunden, nur mit einem
Rucksack und ohne Kreditkarte. Nicht einmal ihrem Zwillingsbruder Lukas hatte sie
ein Sterbenswörtchen davon verraten, wohl wissend, dass dieser versucht hätte,
sie von ihrem Plan abzubringen.
Lucie, die sich bereits als Kind unter dem Einfluss ihrer Mutter für
die unbekannten Mysterien des Orients interessiert hatte, brachte von der Reise
eine verstärkte Vorliebe für die Geheimnisse vergangener Kulturen und
Altertümer mit. Nach einem einjährigen Praktikum im Familienunternehmen, das
sie hauptsächlich ihrem Vater zuliebe angetreten hatte, teilte sie ihm mit,
dass sie ihre berufliche Zukunft nicht dort sah. Stattdessen hatte sie sich
entschieden, Ägyptologie und alte Sprachen zu studieren. Allerdings kam es
schon einmal vor, dass sie ein Semester aussetzte, wie letztes Jahr, als sie
unbedingt eine Weltreise machen musste. Nun, mit 28 Jahren hatte sie sich für
das 9. Semester an der Universität in Rom eingeschrieben. Obwohl sich Lucie
blendend mit ihren Eltern verstand, verdiente sie durch gelegentliche,
hochdotierte Modeljobs selbst mehr als genug Geld. Anfänglich wurde dies von
ihren Eltern missbilligt, aber inzwischen tolerierten sie es, da Lucie
ausschließlich für die exklusivsten Magazine und Designer arbeitete. Außerdem
erging es ihren Eltern genauso wie dem Rest der Welt: Es war schwer, Lucie
irgendetwas abzuschlagen, geschweige denn auszureden.
Rabea hingegen, Lucies beste Freundin, war schon optisch das
genaue Gegenteil von ihr: klein, zierlich und sommersprossig. Bereits in jungen
Jahren verfügte sie über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, gleichzeitig war
sie mit einem hitzigen Temperament gesegnet, dies, ebenso wie das feuerrote
Haar, ein Erbteil ihres irisch stämmigen Vater. Sie entpuppte sich früh als
mathematisches
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