Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Negev.
Das war nicht seine Schwester, die da sprach. Aber er kannte diese
Stimme. Das war doch … Konnte es sie sein?
Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Lukas, die Augen zu
öffnen. Als er es tat, wusste er, dass er sich nicht geirrt hatte: Der Moment,
vor dem er sich seit Jahren gefürchtet hatte, war gekommen. Die Stimme gehörte
tatsächlich Rabea. Der Rabea, die Lukas große und einzige Liebe
gewesen war . Sechs lange Jahre hatte er sie weder
gesehen noch gesprochen. Nun stand sie leibhaftig vor ihm und grinste ihn genauso
wie früher, frech und herausfordernd aus ihren grünen Katzenaugen an. Ihr spöttelnder
Blick und ihr kupferfarbener, hüftlanger Zopf, der ihr armdick über die rechte
Schulter baumelte, schienen jedoch das Einzige an Rabea zu sein, das sich seit
ihrer letzten Begegnung nicht verändert hatte. Doch es waren weder ihre Blässe
noch ihre allzu schmale Gestalt, die durch das schwarze T-Shirt und die engen
Jeans noch betont wurden, die ihn aufwühlten, sondern die sie umgebende,
fühlbare Traurigkeit. Dann fiel sein Blick auf ihre nackten Füße mit den
unlackierten Nägeln und schlagartig fielen ihm die roten Schuhe und die extravagante
Handtasche im Flur ein. Er begriff, was ihn bei deren Anblick beunruhigt hatte.
Grimmig nahm er sich vor, in Zukunft mehr auf seine innere Stimme zu hören.
Seine Augen begegneten ihrem funkelnden Blick und urplötzlich wurde sich Lukas
seiner Blöße bewusst. Um sich einen Rest von Würde zu bewahren, zog er etwas zu
hastig an dem Duschvorhang und riss ihn damit samt der Teleskopstange herunter.
Die Stange krachte schmerzhaft auf seinen Kopf, der nasse Plastikvorhang rauschte
hinterher und blieb unangenehm feucht auf seiner nackten Haut kleben. Getreu
dem Gesetz, dass sich Unglück stets dupliziert, rutschte er beim Versuch, sich
zu befreien, prompt in der nassen Badewanne aus und landete heftig auf seinem
Allerwertesten. „Rabea, was machst du hier? Ich dusche“, entrüstete sich
Lukas reichlich spät. Und wo war das verdammte Handtuch abgeblieben? Rabea,
die eine Schrecksekunde lang befürchtet hatte, dass sich Lukas verletzt haben
könnte, war bei seinen Worten sofort wieder obenauf: „Das sehe ich, wie du
duschst. Jetzt tu´ nicht so schamhaft. Nichts, was ich nicht schon gesehen
hätte, oder?“, erwiderte sie in Anspielung an ihre einstige Liebe. „Wie wäre es
stattdessen mit einem: schön, dich wiederzusehen, Rabea. Wie geht es dir?Oder
noch besser, einem Begrüßungskuss für eine alte Freundin?“
Lukas trieb Rabeas Andeutung auf frühere Zeiten die sprichwörtliche
Schamesröte ins Gesicht. Er konnte sich endlich von dem anhänglichen Duschvorhang
befreien, fand das Handtuch und wickelte es sich um. Er kletterte aus der
Badewanne und hangelte nach seinem an der Badezimmertüre hängenden Frotteemantel.
Rabea rührte nicht den kleinsten Finger. Im Gegenteil, sie quittierte seine offensichtliche
Verlegenheit mit einem zufriedenen Lächeln. Ganz die Alte. Herrin der Lage.
Überraschung geglückt.
„Würde es dir etwas ausmachen, mich alleine zu lassen, damit ich
mich in Ruhe anziehen kann?“ Fest eingehüllt in seinen dicken Bademantel hatte
Lukas mit der flauschigen Bastion zwischen sich und ihr die Situation wieder
leidlich unter Kontrolle.
Mit einem letzten kessen Blick auf seine verhüllte Körpermitte verließ
Rabea das Bad.
Gleich darauf hörte er sie in der Küche hantieren. Offensichtlich bereitete
sie ein Frühstück, was eigentlich nicht so ganz zu ihr passte. Soweit er sich
erinnern konnte, hatte Rabea nie mehr zustande gebracht als einfachen
Pulverkaffee anzurühren. Er besaß keinen Pulverkaffee, dafür eine komplizierte,
chromblitzende Espressomaschine, ein Geschenk seiner Mutter. Kurz darauf hörte
er die Maschine jedoch gurgelnd arbeiten; Rabea schien inzwischen den Umgang
mit einer italienischen Kaffeemaschine gelernt zu haben.
Er ging durch die direkte Verbindungstüre vom Bad in sein
Schlafzimmer. Während er Jeans und ein hellblaues kurzärmeliges Hemd auswählte,
ver suchte er der merkwürdigen Gefühle Herr werden, die ihn seit
Rabeas Auftauchen überkommen hatten. Sie musste ihn genau gehört haben, als er
nach seinem morgendlichen Lauf in die Wohnung zurückgekehrt war. Doch sie hatte
ihren speziellen Auftritt abgewartet, bis er nackt unter der Dusche stand und
damit Ort und Zeitpunkt ihres Wiedersehens bewusst geplant. Typisch Rabea,
nichts dem Zufall zu überlassen. Er fragte sich, was sie hier wollte,
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