Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
Er starrte den grotesken Stuhl mit schmalen Augen an; anders als die Seherin brauchte er keine Gesänge, um seine Macht zu bündeln. »Die Zauber, die hineingewoben wurden, hatten lediglich den Zweck, den Boten mit der Botschaft zu verbinden. Die Spuren in diesem Todeskristall waren wohl dafür verantwortlich, dass Ihre Majestät Kontakt zu den Erinnerungen der Vorfahren aufnehmen und ein Medium schaffen konnte, das alle Lyr miteinander verband …« In seiner Stimme war ein seltsamer Ton, den Gwynofar bei ihm noch nie gehört hatte. Ehrfurcht vielleicht?
Die Seherin sah Gwynofar an. »Möchtet Ihr, dass ich den Stein heil mache?«
Noch ein Opfer, aus freien Stücken angeboten. Nicht um Macht zu erringen, sondern um die Toten zu ehren. Gwynofar überlegte, was an dieser Sache wichtig genug sein könnte, um ein solches Opfer zu rechtfertigen, und schließlich bat sie: »Setzt nur die beiden Hälften wieder zusammen. Kümmert Euch nicht um die anderen Schäden.«
Die Frau nickte und stimmte einen leisen Gesang an, um ihre Macht zu sammeln. Als sie Gwynofar die Kugel reichte, trug diese noch die Kerben und Meißelspuren der Spaltung, war aber wieder ganz.
Das waren Fleisch und Blut einer vergangenen Generation, dachte sie. Und ein Hebel für die gegenwärtige. Es war unmöglich, einen solchen Gegenstand in der Hand zu halten, ohne von Ehrerbietung erfüllt zu sein, als stünde man auf geweihtem Boden.
Ich vertraue dir die Jahrhunderte an , hatte Anrhys gesagt. Nun hielt sie sie in ihrer Hand. Was sollte sie damit anstellen?
»Ich muss die Kugel mitnehmen«, sagte sie leise.
Sie war darauf gefasst, dass ihr Vater Einwände erheben würde, aber er tat es nicht. Er starrte den Thron nur kurz an, dann fragte er: »Wozu?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. In der Vision, die mich hierherführte, wurde mir gesagt, ich sei zu ihrem Hüter bestimmt. Ich weiß nicht, ob damit gemeint ist, dass ich sie sicher verwahren oder … zu irgendetwas gebrauchen soll.«
»Ihr seid damit verbunden«, erklärte Ramirus. »Schon seit dem Tag, an dem Ihr den Thron geweckt habt. Ihr seid ebenso sehr ein Teil davon wie die Märtyrer, für die sie geschaffen wurde.«
»Wir alle sind ein Teil davon«, flüsterte sie.
Lord Keirdwyn kauerte sich langsam vor ihr nieder. Er nahm ihre Hände in die seinen, schloss ihre Finger um die Kugel und wartete, bis sie ihm in die Augen sah. Dann sagte er: »Gwynofar, ich weiß nicht, wohin dieser Weg dich führen wird, aber ich sehe deutlich, dass es dein Schicksal ist, ihm zu folgen. Und was so eindeutig der Wille der Götter ist, müssen wir fördern. Nimm also diesen Anker mit dir, wenn du glaubst, das sei erforderlich. Hüte ihn so, wie du es für richtig hältst. Und vergiss nicht, wenn es wahr ist, dass unsere Feinde über das Blut der Lyr keine Gewalt haben, dann könnte dieser Gegenstand der einzige sein, der durch ihre Macht nicht verdorben werden kann.«
Gwynofar nickte feierlich. Ihr Vater stand auf, reichte ihr die Hand und half ihr, sich zu erheben. »Musst du sofort nach Hause zurückreisen? Ich kann Lazaroth rufen, damit er für deine Beförderung sorgt, ich weiß allerdings nicht genau, wo er sich gerade aufhält. Er sagte, er müsse sich um eine persönliche Angelegenheit kümmern. Ich kann ihn zwar erreichen, aber es könnte eine Weile dauern.«
»Ich kümmere mich um die Beförderung«, erbot sich Ramirus.
»Nein«, lehnte Gwynofar schroff ab.
Sie hielt den Kristall in die Höhe. Die seltsam unregelmäßigen Facetten blitzten im Feuerschein. Hatten Zahl und Form dieser Flächen irgendeine Bedeutung? Oder hatte lediglich jemand wütend auf die Kugel eingeschlagen, sodass ein Spiegelbild einer chaotischen Zeit entstanden war? »Sie darf nie mit Zauberei in Berührung kommen«, flüsterte sie. Sie wusste nicht, wieso das von Bedeutung war, aber eine innere Stimme beteuerte ihr, es sei sehr wichtig.
Ramirus zog die Stirn in Falten. »Ohne Portalzauber seid Ihr eine gute Woche unterwegs.«
»Das Wetter ist gut«, beharrte sie. »Ich freue mich auf den Ritt.«
»Verzeihung, Majestät«, meldete sich nun Keirdwyns Seherin. »Das ist nicht nötig. Ich bin sicher, meine Kollegen sind gerne zu einem Banngesang bereit.«
Gwynofar nahm das Angebot mit hoheitsvollem Nicken an. Beförderungszauber waren kostspielig, und die Etikette der Protektorate verlangte, dass sie von den Hexen und Hexern ihres Vaters ein solches Opfer nur forderte, wenn es unumgänglich war. Doch es
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