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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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der der fremde Junge lag.
    Der Junge wirkte gar nicht tot, obwohl man sah, dass er nicht lebte. Sein Blick war starr, aber die Augen blickten noch, als schauten sie der Seele hinterher.
    Gregor wandte sich zur Seite und reichte dem Präzeptor den versiegelten Brief. Der Lehrer riss das Siegel ab, entfaltete das Blatt und las.
    »Sie können gehen, Master Gascoigne.«
    Clifford presste die dünnen Lippen aufeinander.
    Gregor machte eine knappe Verbeugung und warf einen letzten Blick auf den toten Schüler, der erst am Vortag in die Klasse gekommen war und dessen Namen er vergessen hatte. Er bekreuzigte sich, murmelte ein kurzes Gebet und verließ den Schlafsaal.
    Auf dem Gang kam ihm der Pedell mit ein paar Helfern entgegen. Sie trugen eine Bahre. Gregor drückte sich an der Seite vorüber, ging schneller. Im Hof hing das Brunnenseil dreifach gerollt über dem hölzernen Handlauf. Es war das Zeichen, dass Andrew draußen am Deadhouse auf ihn wartete.
    Gregor sah sich prüfend um. Dann folgte er dem Hofweg bis zu einem Niedergang und sprang die vier Stufen nach unten. Hier lag ein alter Gang, der das Konvikt mit dem Totenhaus verband, einer klaffenden Ruine, die wie ein zerbrochener Riesenzahn aus einer Insel wuchernder Holunderbüsche in den Himmel ragte. Das Deadhouse trug seinen Namen von alters her. Es hieß, dass man dort vor Zeiten unbekannte Tote aufgebahrt hätte, damit sie von Angehörigen identifiziert und zur Bestattung mitgenommen werden konnten.
    Gregor bahnte sich den Weg von dem Durchgang zur Ruine. Es war heiß, er schwitzte. Er dachte an den toten Jungen.
    Andrew saß auf einem großen Findling, der am Eingang des Totenhauses lag und etwa die Größe eines Ochsenkarrens hatte. Dessen Oberfläche war fleckig und glatt, mit einem ziemlichen Gefälle, so dass man sich, wenn man darauf saß, nach hinten fallen lassen und in die Wolken schauen konnte.
    Andrew hockte mit hängenden Beinen auf der Felsenkante. Er trug enge, halblange Bundhosen und eine offene, am Saum zerrissene Jacke.
    »Hat Clifford irgendwas gesagt?«, fragte er sofort.
    »Der sagt nie was«, antwortete Gregor und setzte sich neben Andrew auf den Stein. »Ich hab ihn gesehen, den toten Jungen. Er hatte einen Brief bei sich, in dem bestimmt wieder steht, dass er Gott verloren hat. Andrew, ich hab Angst.«
    »Hat Clifford was über mich gesagt?«
    »Nichts.« Gregor blies die Wangen auf und pustete. »Hast du gehört? Da war ein Brief…«
    »Hast du gar nichts lesen können?«, unterbrach Andrew ihn.
    Gregor schüttelte den Kopf. »Ich wette, es ist der achte Selbstmord. Was sonst? Wenn es ist, wie sie sagen, dass es dich einfach überfällt und du den Glauben verlierst wie einen Türschlüssel oder ihn vergisst wie eine Parole vor dem Stadttor, und du stehst draußen und es wird Nacht und eiskalt und niemand lässt dich rein?«
    »Spinner!«, sagte Andrew verächtlich. Er hatte selber Angst.
    »Tu nicht so stark!«, zischte Gregor und sprang von der Felsenkante ins Gras.
    »Hör zu!«, sagte Andrew. »Ich muss dir was zeigen. Es ist wichtig. Du musst mir helfen.« Er fasste ihn am Arm und zog ihn zur Ruine. Drinnen schob er Gregor in eine Mauerecke, wo im hohen Gras die flache Karre stand. Der Hund lag halb zugedeckt darin.
    Gregor ging näher und bückte sich. »Was ist mit ihm?«
    »Ich hab ihn gestern aus Bear Garden rausgeschmuggelt. Er lag unter den toten Hunden.«
    »Und wie hast du ihn über die Brücke gekriegt?«
    »Zugedeckt«, sagte Andrew nur. »Aber Clifford hat mich gesehen. Ausgerechnet. Ich kanns selbst kaum glauben.«
    Gregor blickte zu ihm hoch. »Du bist so gut wie relegiert!«
    »Er weiß nichts von Clatter. Er hat nur die Karre gesehen. Deshalb frag ich ja, ob er von dir was wissen wollte?«
    Gregor schüttelte den Kopf.
    »Er heißt Clatter.« Andrew bückte sich und streichelte den langen Kopf. Der Hund schnaufte leise.
    »Er wird schon wieder. Er kann nur nicht hier bleiben. Wir müssen ihn zum Schlangenkeller bringen.«
    »Wir?«, fragte Gregor misstrauisch. »Quer durch die Stadt?«
    Andrew kannte Gregor. Er wusste, dass er helfen würde, mit viel Maulen und Nölen, aber er würde helfen, genauso wie die anderen, Charles und Search, denen er es noch erklären musste.
    »Wenn du die anderen vor mir siehst, sag ihnen, was los ist. Heute Abend bringen wir ihn hin.«
    Gregor staunte bloß. »Obwohl Clifford dir schon auf den Fersen ist?«
    Andrew kraulte das Fell. »Sieh ihn dir doch an! Wir müssen was zu fressen

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