Die Seelenpest
sei und dass es niemand gebe, der mein Leben lenkt und meine Seele rettet, weil auch die Seele nichts als ein Gedanke sei. Und dass dieser Gott, der nicht sei, mir die Eltern rauben werde, das sei mit Wissenschaft berechnet und stehe unumstößlich fest.« Andrew blickte um sich. »Hier bricht der Brief ab.«
Search fand als Erster wieder zu sich. »Ein Gott, der gar nicht existiert, könnte ihm wohl nicht die Eltern rauben.«
»Wo hast du den Brief her?«, fragte Charles.
»Das sag ich nur, wenn ein Blackfrairs-Geheimnis daraus wird«, sagte Andrew.
Alle stimmten zu.
»Margaret Morland hat ihn heimlich abgeschrieben. Offenbar ist ihr Vater damit befasst, die Todesfälle zu untersuchen.«
»Wer ist Margaret Morland?«, fragte Charles.
»Die Tochter des Unterschatzkanzlers«, erklärte Gregor. »Die Morlands haben eine eigene Hausschule, der Vater unterrichtet auch die Mädchen. Andrew wird in den Adel einheiraten.« Er grinste bissig.
»Eine Schule für Mädchen?«, sagte Charles erstaunt.
»Ja, damit sie später schlau genug sind, um Leuten wie dir sicher aus dem Weg zu gehen«, rief Andrew und boxte Charles.
Charles schlug zurück. Zu fest, fand Andrew. Ihm war längst aufgefallen, dass Charles irgendwie verändert war.
»Was ist eigentlich los mit dir?«
Charles machte eine Handbewegung, als scheuchte er ein Tier weg. Clatter konnte nicht gemeint sein, er lag schlafend in der Ecke und seufzte ab und zu. Es war in letzter Zeit oft vorgekommen, dass einer der Freunde ungeduldig reagierte und bei jeder Kleinigkeit fast aus der Haut fuhr. Seit diese Selbstmorde vorkamen, hatte jeder Angst, ob er es zeigte oder nicht. Gerüchte liefen täglich um, und jeder hoffte, dass der Spuk ein Ende nahm.
»Du hast doch irgendwas, Charles!«, drängte Andrew.
Charles sprang auf und rannte einfach aus dem Keller. Andrew folgte ihm und stolperte. Er rief ihm nach. Am Eingang hörte er, wie Charles die Gartenmauer übersprang. Andrew blieb stehen. Die anderen waren ihm gefolgt. Er spürte, dass irgendetwas vorgefallen war. Sie alle fühlten es, wortlos, als ob sich zwischen ihren Herzen geheime Zeichen hin und her bewegten.
12. K APITEL ,
in welchem Lügen eine große Rolle spielen
Der jüngste Todesfall, von dem der Anwalt und Mitbewohner von Old Barge William Gills berichtet hatte, war noch viel schrecklicher als alle früheren. Ein vierzehnjähriger Schüler der St. Anthony School in Bridewell hatte offenbar seine Eltern, drei Geschwister, eine Tante sowie vier Inwohner seines Elternhauses und sich selbst mit einem heimtückischen Gift getötet, das er zuvor, wie er in seinem Abschiedsbrief berichtete, von einem norwegischen Seemann erstanden hatte. Ein Nachbar fand die Toten in der Küche ihres Hauses, die Glieder grauenvoll verrenkt, die Gesichter verzerrt, blut- und schaumverschmiert und voller Fliegen. Der Brief des Jungen steckte in seiner verkrampften Hand, die man zerbrechen musste, um ihn zu entnehmen.
Der Gassenvogt, der den Brief sicherstellte, konnte selbst nicht lesen, war aber neugierig genug gewesen, das Schreiben erst einmal seinem Barbier zu zeigen, dessen Schwager als Sekretär bei einem Anwalt in Spital Fields tätig war, so dass der Inhalt rasch die Runde machte und also diesmal kein Geheimnis blieb.
Zwei Tage nach dem grausigen Leichenfund erzählte man, ein Engel sei vom Himmel herabgefahren und hätte den Toten die Seelen aus dem Mund gerissen, um sie im selben Augenblick mit Blitz und Lärm auf ewig in die Hölle zu entsenden.
In seinem Abschiedsbrief beklagte der Junge, er hätte Gott verloren wie ein wertvolles Geschenk, dessen Verlust das Leben leer und sinnlos werden ließe.
Nur einen Tag darauf nahm man am Alders Gate achtzehn Studenten fest, die sich auf offener Straße, alle Menschen vor dem Weltende warnend, wie Flagellantenbrüder mit Ruten blutig schlugen.
Weit draußen vor den Toren, in Islington, griff man eine Bande Kinder auf, die eine Ziege kreuzigten, und in Shadwell, am Fluss im Osten der Stadt, ging eine Frau ins Wasser. Am Ufer fand man einen Brief, in welchem sie von einer ungeheuren Leere sprach, von einem schwarzen Abgrund, der in ihr entstanden sei, nachdem sie Gott verloren habe, verloren wie die Liebe eines Menschen, der mit einem Mal verschwindet und jeden Sinn und alle Liebe mit sich nimmt.
Die Toten wurden untersucht, man fand nichts Ungewöhnliches. Zwei Abdecker verbrachten die Leichen daraufhin nach Hoxton, wo der Junge ohne Gottes Segen
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