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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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den oberen Amtsräumen und Schreibsälen führte. In den Kontoren wurde gearbeitet. Die Diener trugen Folianten durch die Flure, säuberten Mäntel und Talare, putzten Stiefel und füllten Krüge mit verdünntem Wein.
    Der kleine Saal, in welchem sich die Kommission treffen würde, war kalt und dunkel. Einer der Lakaien öffnete die Vorhänge und ließ von zwei Kohlenjungen eine große, qualmstinkende Eisenwanne ins Zimmer schleppen. Die Funken sprühten lustig und verbrannten das Parkett. Der Diener schimpfte, ängstlich um sich blickend.
    Thomas setzte sich auf einen der Lehnstühle, die um den gewaltigen Tisch standen. Seine Laune wurde immer dunkler.
    Der Diener stand noch in der Tür und fragte, ob er etwas bringen könne, ein Stück Kuchen oder süßes Brot. Thomas scheuchte ihn hinaus. Es tat ihm sofort Leid, und doch auch wieder nicht. Er war sich selber spinnefeind. Er wusste, dass keiner in der Kommission etwas wirklich Nützliches zu dieser Seelenpest (was für ein Wort!) beitragen würde; alles würde an ihm hängen bleiben, wie immer. Dabei ging es um das Wichtigste im Leben: um Gott und um den Glauben. Und um den Zweifel!
    Er wusste, welche Folter dieser Zweifel war. Und eine umso schlimmere Tortur, weil es gefährlich war, die Zweifel zu gestehen oder gar offen auszusprechen. Dabei ist Zweifeln menschlich! Jeder wusste das. Aber jeder wusste auch, dass Gott der Herr dem Menschen diesen Zweifel in das Herz legt, um seine Liebe auszuhärten. Kein Glaube ohne Zweifel! So steht es in der Schrift. Und doch war nicht jeder mit der Kraft gesegnet, seine eigenen Zweifel zu bekennen. Aber nun, plötzlich, kamen irgendwelche Schüler und schrieben nieder, was sie fühlten, halbe Kinder noch, die unbefangen waren. Sie schrieben auf, wie tief der Abgrund sei, in den sie blickten, schrieben es mit ihrem eigenen Blut auf das Papier und töteten sich! Oder steckte etwas anderes dahinter – jemand anderes? Aber wenn es jemand war, dann war er mächtig, voller List und böse und würde sich nicht fangen lassen, von niemand in der Welt…
    Nichts von alldem würde ernsthaft erörtert werden, Thomas ahnte es. Sie würden schwafeln, flüstern, tratschen wie die Weiber. Vor allem Pinchbeck, dieser Lackaffe, würde leere Hülsen reden, rülpsen, schmatzen und nichts Besseres zu tun haben, als das dünne Ergebnis dieser Konferenz dem König zuzuflüstern. Das war die Sorte Politik, die dieser Kerl beherrschte, dem er, Sir Thomas Morland, am liebsten kräftig auf sein Maul schlagen würde, schon lange eigentlich, ja immer schon!
    Und wie gut er selbst wusste, wovon die Schüler in den Briefen redeten! Es war etwas mehr als zwei Jahre her, im Winter. Er hatte in seinem Turmzimmer gesessen und gearbeitet, als ihn ein Gefühl befiel, als hätte Gott ihn ausgewählt, um seine Glaubenskraft zu messen. Der Gedanke hatte ihn gestreift, dass Gottes Bild, das sich der Mensch vorstellte, im Grunde menschlich war. Gott sei der Schöpfer aller Dinge, hieß es, also auch des Menschen. Was aber, wenn es umgekehrt war? Was, wenn der Mensch sich Gott schuf? Die Götterwelt der Griechen! Die Wilden, deren Götzen in den Bäumen leben, in den Steinen. Wenn dies passiert war, dann leuchtete auch ein, wieso der Christengott in allen Zeiten stets ein Streitobjekt gewesen ist. Denn Gott, der eine Gott, war nur im Herzen zu erkennen, und jedes Herz ist anders und erkennt ihn wie ein Kind zunächst auf seine eigene Weise, statt das zu sehen, was die Kirche will.
    Das Turmzimmer war ihm damals (nie würde er es mehr vergessen) mit einem Mal zu eng erschienen.
    Er war aufgesprungen und hatte es durchmessen, unruhig, wie gehetzt. Als wären ihm die eigenen Gedanken wie Füchse nachgeschlichen. Er hatte fliehen wollen, ging zur Tür, aber auch dort hockten sie, fletschten ihre Zähne und schielten nach ihm wie nach leichter Beute…
    Ein Diener öffnete die Tür. Thomas schreckte hoch.
    »Walter Skinner, Berater des Lord Mayor, des Bürgermeisters der Stadt London!«
    Skinner sprang herein, als wäre er die Strecke durch den Flur gerannt. Er pustete.
    »Bin ich zu spät?«
    Thomas sah ihn finster an. »Sie sind zu früh.« Er spreizte die Finger vor sich auf dem Tisch und prüfte seine Nägel, die er kurz und sauber hielt, was nicht einmal der König tat.
    »Woran dachten Sie soeben, Sir Thomas?«, fragte Skinner mit federleichter Stimme und nahm Platz. Er bestellte Bier. Der Diener eilte auf den Flur hinaus.
    »Was sieht man mir denn an?«
    »Sie

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