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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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gestellt, so wie er sich Andrew gegenüber verhalten hatte…
    Charles schloss die Augen. Die Luft im Saal war von der Nacht verbraucht. Der Gestank wich nie ganz aus den verfilzten Decken, selbst wenn sie einmal in der Woche kurz gelüftet wurden.
    »Master Summers…!«
    Charles blieb das Herz stehen.
    »Mein Junge, hier bin ich…!« Es war Clifford.
    Charles sprang aus dem Bett, die Knie quälten ihn. Er blickte um sich, sah aber niemanden.
    »Sir?«
    »Hier hinten, Master Summers…!«
    Clifford stand unter einem dunklen Bogen, dort wo sich der hohe Wäscheschrank befand. Charles sah ihn nur als Schattenriss.
    »Was machen Ihre Beine?«
    »Es geht schon wieder, Sir.« Charles merkte, wie sich Angst in seinen Magen schlich.
    »Das freut mich, Junge. Ich habe das Gefühl, dass du vielleicht nicht ganz verstanden hast, warum es manchmal wichtig ist, zu lernen, was Bedrohung ist. Wenn du die Bibel aufmerksam liest, findest du unzählige Stellen, in denen Menschen sehr schwere Prüfungen bestehen müssen. Entweder scheitern sie daran oder sie entwickeln sich, von Schritt zu Schritt… Das Schlimmste wäre stillzustehen. Das ist der Tod. Denk drüber nach, Charles! Du willst nicht stillstehen, und weil ich dich gepeinigt habe, bist du nicht mehr derselbe, der du am Vortag warst. Du solltest froh sein.«
    »Ja, Sir.«
    »Ich habe einen Freund, der dich besuchen wird. Du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten. Er ist ein guter Mensch, er will beweisen, dass unsere Angst, Gott könnte uns nicht hören, unbegründet ist. Jeder kennt diese Angst, Charles, selbst ich bin nicht davor gefeit. Dass ich vor euch den Eindruck mache, dass ich sicher bin, ist meine Pflicht als Lehrer. Ich höre ihn jetzt kommen und gehe besser.«
    Clifford ging zur Tür, winkte herüber und verließ den Saal so lautlos, wie er hereingekommen war.
    In Charles ließ er ein großes Loch zurück, als hätte jemand es mit einer Schere in sein Herz geschnitten. Charles konnte fühlen, dass dieser Schrecken nicht vorüber war. Clifford war gegangen, aber etwas anderes war im Saal geblieben, ein Schatten, der jetzt von der anderen Seite in das trübe Licht der schmalen Fenster trat.
    »Du bist also Charles Summers«, sagte eine tiefere als Cliffords Stimme. Charles hatte sich wieder auf sein Bett gesetzt.
    »Dein Lehrer hat mich vorhin reingelassen. Wir sind allein. Du brauchst dich nicht zu fürchten, ich bin weder ein Engel noch der Teufel.«
    Charles lugte vorsichtig zur Tür. Dort stand ein Mann mit langem, offenem Haar.
    »Sir?«, sagte Charles leise.
    »Ich kann an deiner Stimme hören, dass du Angst hast. Wie soll ich mit dir reden, wenn du dir in die Hosen machst?« Der Mann lachte, es klang freundlich.
    Charles hörte, wie er ein paar Schritte tat. Er sah ihn näher kommen. Das Gesicht war nicht zu sehen, nur der Mund, das Kinn, es hatte keinen Bart.
    »Ach, dieser Präzeptor, ein rätselhafter Kerl! Wie er schon redet! Aber wir können uns nicht aussuchen, mit wem wir Umgang haben, stimmt’s?«
    »Ich weiß nicht«, hauchte Charles. Er tat keine Regung, er wusste nicht, was er empfinden oder denken sollte.
    Plötzlich hatte der Mann etwas an seiner Hand, einen Handschuh, nein, etwas an seinem Finger, ein Püppchen, das sich jedes Mal verbeugte, wenn er den Zeigefinger krümmte.
    »Das ist er, oder nicht?«, flüsterte der Fremde.
    Charles staunte bloß. Das Püppchen war der Präzeptor Clifford, sein Ebenbild, nur alles spatzenklein und zierlich.
    »Er ist stets bei mir, dieser Wicht, und wie du auch erkennen kannst, bin ich es, der ihn kontrolliert. Du musst dich also nicht mehr vor ihm fürchten. Vertraust du mir?«
    Der Junge schwieg.
    »Glaubst du an Gott, Summers?«, fragte der Fremde.
    »Ja, Sir.«
    »Ich beneide dich dafür. Wie Gott mir fehlt!«
    »Fehlt, Sir?«
    »Es gibt ihn nicht.«
    »Doch, Sir.«
    »In deiner Welt. Ich habe ihn verloren.«
    »Es gibt nur eine Welt«, versetzte Charles.
    »Wieso? Kenne ich deine Mutter oder den Ort, wo du geboren bist? Das ist nicht meine Welt, Charles, sondern deine, in der es eben einen Gott gibt, an den du glaubst und der für dich alles beieinander hält.«
    »Gott ist über allem, Sir. Das lernen wir.«
    Der Fremde lachte wieder. »Wir lernen auch, dass Krieg zu führen sei. Aber ist es wirklich gut, anderen Menschen den Schädel einzuschlagen und ihnen Haus und Hof zu rauben, bloß weil sie eine andere Sprache sprechen oder weil sie vielleicht dümmer oder begabter sind als wir? Wir wissen

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