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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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haben Sorgen«, stellte Skinner fest und knetete die Hände. »Nun ja. Wer nicht?« Er saugte seine Lippen ein. »Sie wirken… kränklich?«
    Thomas zwang sich, ruhig zu bleiben. Er schielte zu den schweren Tintenfässern, die am Ende des Tisches auf einem hübschen Deckchen standen. Er hatte jetzt die allergrößte Lust, dem Kerl eins an den Kopf zu werfen – und dem Nächsten, der hereinkam, gleich ein zweites!
    »Ich dachte an Ihren Herrn und unseren Bürgermeister, den Lord Mayor«, sagte er. »Wieso kommt er nicht selbst? Ist ihm der Kampf um Gott nichts wert?«
    »Der Lord Mayor findet«, antwortete Skinner kühl, »dass diese toten Jungen die allein Schuldigen sind. Ich teile diese Meinung. Hat der Lord Mayor Ihnen nichts gesagt?«
    »Er spricht nicht viel mit mir.«
    Skinner schwieg eine Weile. Dann sagte er gelangweilt: »Trösten Sie sich, Sir Thomas, mit mir spricht er genauso wenig. Er legt mir Zettel auf den Tisch. Er regiert die Stadt mit schmalen Streifen aus Papier.«
    Thomas lachte bitter.
    Am liebsten wäre er jetzt aufgestanden und nach Hause gegangen, zu Fuß, mitten durch den Straßenlärm. Das tat manchmal gut, einfach jemand sein wie jeder andere, ohne Titel und Funktion, ohne die Gewissheit, dass in jedem Augenblick ein Dutzend wichtiger Leute an einen denken, im Guten oder Bösen. Der König etwa und natürlich Lordkanzler Wolsey oder sein Stellvertreter Pinchbeck. Statt selbst etwas zu tun, hatten sie sich Thomas ausgesucht, der an ihrer statt vermitteln, lügen, übertreiben, herunterspielen musste.
    »Ich habe oft darüber nachgedacht«, sagte Skinner plötzlich, »ob es nicht ratsam wäre, sich mit Pinchbeck zu verbrüdern, behutsam freilich, an dünnen Fäden, die im Ernstfall reißen und vermeiden, dass man mitgerissen wird. Ich meine, Pinchbeck ist ein Wildschwein, oder?«
    Er schielte herüber, um zu sehen, wie Morland reagierte.
    »Jeder weiß, dass Wolsey seinen Blick auf Rom gerichtet hat«, fügte Skinner tastend hinzu. »Er will Papst werden. Ihre Meinung, was diese Selbstmorde betrifft, ist ihm alles andere als egal.«
    »Bin ich so wichtig?« Thomas schwieg und starrte reglos auf den Tisch. So lange, bis der Diener ein zweites Mal die Tür öffnete und ein Stück weit in das Zimmer trat.
    »Seine Exzellenz der Bischof von Middlesex, Leonard Reed!«
    Der Bischof kam durch die Tür, mit hochrotem Gesicht und offenem Mund, krumm und pustend, als schleppte er einen Sack Steine auf dem Rücken. Thomas grüßte ihn. Skinner nickte nur. Reed stutzte, spürte offenbar die angespannte Atmosphäre und setzte sich.
    Thomas kannte ihn nur jammernd, die Hände auf die Brust gepresst, nach Luft ringend, von hundert Schmerzen und von kaltem Schweiß geplagt, vor allem Gott unentwegt bedrängend, mit welchen Sünden er sich diese Strafen auf den Leib gezogen habe. Mit allen, lautete die Antwort und ganz England wusste es.
    Der Bischof stöhnte ausgiebig, sah Skinners Bierkrug und bestellte ebenfalls.
    »Sagen Sie, Morland, haben Sie einen dieser Abschiedsbriefe gelesen, von denen alle Welt redet?«
    »Ich habe Abschriften anfertigen lassen«, sagte Thomas. »Der jüngste Brief ist durch einen Gassenvogt in fremde Hände gelangt. Die Abschriften der Briefe habe ich mitgebracht und werde sie Ihnen aushändigen, sobald wir versammelt sind.«
    »So viel Aufhebens«, maulte der Bischof.
    Der Diener brachte das Bier. Reed nahm einen tüchtigen Schluck. »Was sollen wir denn nun denken? Ist das alles ernst zu nehmen oder nicht?« Er wischte sich den großen, nassen Mund.
    »Gäbe es sonst eine Atheismuskommission?«, fragte Skinner gelangweilt.
    »Dieser Begriff alleine!«, antwortete Reed. »Das haben Sie sich ausgedacht, Sir Thomas, oder nicht? Schon das Wort wird uns alle in die Hölle bringen.«
    Thomas öffnete seine Tasche und legte die Papiere auf den Tisch.
    »Atheismus«, schimpfte der Bischof weiter. »Das klingt so… akademisch. Als hätten wir die Aufgabe, den Atheismus zu erfinden. Herrje, nur weil ein paar Lausejungen verrückt spielen…«
    »Sie sind tot, Bischof Reed!«, unterbrach ihn Thomas. »Die Stadt ist voller Gerüchte, man spricht von einer Seelenpest!«
    »Weil es ein paar Tote gibt, die sich aus freien Stücken den Weg ins Paradies verstellten? Das ist doch albern!«
    »Weil sich fünf Jungen das Leben genommen haben, alle mit der Begründung, sie hätten Gott verloren.«
    Der Bischof umklammerte den Bierkrug. »Gott kann man nicht verlieren!«
    »Nicht wie einen

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