Die Seelenpest
nahm eine weitere Abschrift und schob sie in Cliffords Richtung über den Tisch.
Wieder kehrte Stille ein. Reed murmelte, Pinchbeck aß, Skinner las mit hochgezogenen Augenbrauen, skeptisch, beinah angewidert, wie es schien.
»Ist der Herr Rektor krank?«, fragte Thomas diesen Clifford.
»Nein, Sir«, antwortete der Kerl.
Thomas lag auf der Zunge zu bemerken, dass ein »Nein« keine sonderlich höfliche Erklärung sei. Doch er verkniff es sich.
»Gut, also…«, sagte Pinchbeck nach einer Weile mit vollem Mund. Er hatte die Blätter überflogen und schob sie von sich, wie etwas, dem man nicht so nah sein möchte. »Ich muss mich wundern, dass Sie, Sir Thomas, es für nötig halten, einen Stab von Kopisten mit diesem Unsinn zu beschäftigen.«
»Diese Schüler sind tot«, sagte Thomas ruhig. »Und es werden mehr. Es geht hier nicht um Kopisten, sondern um Gott und das Leben junger Menschen.«
Er blickte mit schmalen Augen auf Pinchbecks Teller mit dem Brot, die Krumeninseln und das Messer, das einen geschnitzten Hornschaft hatte.
Pinchbeck merkte es. »Stört es Sie, Morland, dass ich hier esse? Ich habe Hunger.«
»Nein, genießen Sie, solange Sie noch können«, sagte Thomas.
»Was soll das heißen… solange ich noch kann?«
»Solange Sie noch leben. Wenn Sie tot sind, kommt das Himmelreich. Glauben Sie, dass es dort auch etwas zu essen gibt?« Thomas hob den Kopf.
Pinchbeck blinzelte gefährlich.
»Was soll das werden, Sir Thomas? Ein Angriff? Wollen Sie Krieg?« Er lachte künstlich. »Sagen Sie klipp und klar, was Sie zu tun gedenken, und wir sind wieder Freunde!« Er verzog angewidert den Mund. »Ich glaube, dieser Herr dort, der soeben in Vertretung des Rektors gekommen ist, er guckt schon ganz verlegen und weiß nicht, was er denken soll.« Er beugte sich vor, um Clifford anzusehen.
Clifford tat überrascht, schüttelte den Kopf.
»Darf ich nach Ihrem Namen fragen?«
Clifford nannte ihn mit leiser Stimme.
»Präzeptor Clifford also!«, stellte Pinchbeck fest. »Ich kann Ihre großen Augen sehen, die vor Staunen über diesen Blödsinn vorhin schier brennen müssen. Bitte, Morland, beruhigen Sie den Mann! Was soll er von uns denken?«
Thomas ging nicht darauf ein. »Die Schüler schreiben, dass sie Gott verloren hätten. Ich erinnere mich, als ich ein Kind war, hatte ich ein sehr anderes Bild von Gott als später, und das spätere, in meiner Jugend, unterschied sich außerordentlich von meinem heutigen. Sie kennen das. Jeder Mensch weiß, was ich damit meine. Als Kind stellt man sich einen alten, gütigen Mann vor, als Jugendlicher sieht man schon einen Gott, der alle Welt umspannt, er lebt in jeder Seele. Was ich sagen will, ist, man formt sich Gott wie einen Götzen, mit Kinderrecht, mit Kinderunschuld, mit jugendlicher, unverdorbener Phantasie. Und deshalb gibt es die Eine Kirche, die uns sagt, wie Gott wirklich ist.« Er blickte um sich.
Niemand sagte etwas. Sogar Pinchbeck gaffte nur, unter seiner Nase glitzerte ein nasser Fleck, der länglich wurde und in seinem Bart verschwand. Es war ein kurzer Bart, nicht sehr gepflegt und an den Spitzen angegraut, obgleich der Mann erst an die dreißig war.
»Jeder von uns hatte so ein Kindergottesbild und jeder hat es irgendwann verloren. Es ist verlierbar.« Thomas sprach langsam. »Gott selbst legt es in unser Kinderherz und löscht es später aus. Es wandelt sich mit uns, mit unserer eigenen Wandlung.«
»Sie verwirren mich, Morland«, sagte Walter Skinner. »Wenn ich nicht sicher wüsste, dass Sie ein frommer Mann sind, würde ich denken, Sie seien auf Abwege geraten. Soll das eine neue Lehre werden, wollen Sie einen Orden gründen?«
Thomas schwieg. Er hatte keine Angst.
»Diese Schüler waren jung genug, noch ihre Kinderbilder zu verlieren, Bilder, die noch ungefestigt waren, aber lebenswichtig. Die Seelen dieser Kinder sind wie ungebrannter Ton.«
»Was reden Sie denn da?«, rief Bischof Reed. »Sie plänkern hier. Sie säuseln uns zu Tode!«
»Sie glauben also wahrhaftig, Morland, dass dieses Gerede von der Seelenpest was Ernstes ist?«, warf Skinner ein. »Was soll uns denn bedrohen? Werden allen Londonern jetzt irgendwelche Briefe zugeschickt und nach einer Woche sind wir alle mausetot? Ich schlage vor, wir senden ein paar Leute aus, Agenten, die die Familien der verstorbenen Jungen, ihre Freunde beobachten, Erkundigungen einholen, Wissen, mit dem wir operieren können. Ich glaube, das ist unser Auftrag, nicht die Philosophie und
Weitere Kostenlose Bücher