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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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Handschuh, nein. Aber wie einen Wunsch, einen Gedanken oder eine Erinnerung vielleicht.«
    »Was reden Sie denn da, Morland! Wollen Sie mir Unterricht erteilen?« Reed verlor die Farbe. »Jeder Selbstmord, das wissen Sie, ist ein dreifaches Verbrechen, ein Verstoß gegen die Natur, weil es dem Gesetz der Selbsterhaltung widerspricht; ein Vergehen gegen Gott, weil er das sechste Gebot verletzt, und schließlich ein Verbrechen gegen den König, indem dieser hierdurch einen Untertanen und als Haupt des Staates eines seiner Glieder verliert.«
    Er saß schwerfällig in seinem Lehnstuhl, mit vorgeschobener Unterlippe. Selbstherrlich wie immer, dachte Thomas. Wäre es nach ihm gegangen, wäre Reed niemals in die Kommission berufen worden. Vermutlich hatte er sich selber vorgedrängt, laut, schamlos und des Geldes wegen, denn das Parlament bezahlte jedem eine Aufwandsentschädigung von einundzwanzig Schillingen.
    »Bischof Reed«, sagte Thomas jetzt gefährlich leise. »Ich mache mir die Mühe nicht des Geldes wegen. Ich bin besorgt, dass es offenbar Kräfte gibt, die aus irgendeinem Grunde jungen Menschen so sehr in die Seele treffen, dass sie sich selber töten.«
    »Kräfte! Sie träumen doch!«, entgegnete Reed gereizt. »Wie lobenswert, dass Sie sich so große Sorgen um ein paar Bengels machen, die Gott ›wie einen Wunsch‹ verlieren, auf der Straße, nehme ich an, vom Wirtshaus auf dem Weg nach Hause.«
    Thomas ging nicht darauf ein. Er lehnte sich zurück und versuchte, ruhig zu bleiben. Er zog den Mantel fester um sich, es war immer noch sehr kalt im Saal.
    Die Tür ging auf.
    »Sir Julian Pinchbeck!«, rief der Diener. »Erster Sekretär Seiner Exzellenz Thomas Kardinal Wolseys, Lordkanzler von England.«
    Pinchbeck trat ein, sah sich um und blinzelte. Der Mann würde ein weiterer Gegner werden, aber Thomas hatte keine Angst vor ihm.
    Sir Julian, das musste man ihm lassen, war ein gut aussehender Mann. Seine Haltung war gerade, er war schlank. Das Auffälligste war sein Gesicht, die Nase, das Profil. Nichts an ihm war englisch, nordisch; jeder, der ihm das erste Mal begegnete, dachte, er sei ein Südländer, Romane durch und durch mit seinen hohen Wangenknochen, den schönen, dunklen Augen, dem geschwungenen Mund und dieser Dante-Nase, vor allem auch das schwarze, lange, dichte Haar ließ ihn wie einen Helden aus alten Zeiten wirken. Lady Alice kannte ihn und schwärmte, ohne sich zu schämen.
    Er kam an den Tisch, nickte Thomas zu, die anderen beachtete er gar nicht. Er setzte sich, bestellte Brot und Mus und etwas warme Milch. Der Diener eilte fort.
    »Gut, Morland«, murmelte er undeutlich und hob erwartungsvoll die Hände. »Ihr Wort also…«
    »Mein Wort?«, fragte Thomas verwundert. Er begann, die Abschriften der Briefe zu verteilen. »Lesen Sie, Gentlemen, es wird Ihre Herzen erfrieren lassen.«
    Walter Skinner, Bischof Reed und Julian Pinchbeck nahmen die Blätter und lasen. Es wurde still. Die Tür stand einen Spalt weit auf, man hörte Schritte auf dem Flur. Der Diener brachte das Gedeck für Pinchbeck, bat flüsternd um Entschuldigung und legte vor, verneigte sich und schlich davon.
    Thomas musste schmunzeln. Pinchbeck, so erzählte man sich, schleppe schon seit längerem zwei Lakaien mit sich, die das Kopfhaar ihres Herrn zu zählen hätten, jedes einzelne. Der König und der Kardinal Wolsey hätten eine Wette abgeschlossen, wie viele Haare auf dem Schädel eines Menschen wachsen. Sir Julian hätte den Befehl erhalten, die königliche Schätzung und die des Thomas Wolsey mit der Wirklichkeit zu messen, mit seiner eigenen Wirklichkeit. Pinchbeck habe ein goldenes Gitter löten lassen, mit welchem man ihm nun den Kopf vermaß, Quadrangel für Quadrangel, Tag für Tag, seit Wochen schon, von Ohr zu Ohr. Er selber raufe sich die Haare, sagte man, vor Wut ob dieses Unfugs – indes sehr vorsichtig und mit Gefühl, um ja die Zählung nicht zu fälschen!
    Alle lasen noch, als die Tür ein fünftes Mal geöffnet wurde.
    »Präzeptor Clifford, Lehrer am New Inn, als Stellvertreter des Rektors Peter Furges!«, meldete der Diener.
    Alle schauten auf.
    Ein blasser Mann betrat den Saal, blieb stehen und verneigte sich. Sein Mund war nur ein Strich, die Augen standen viel zu nah zusammen. Das Gesicht war kantig, bäuerlich, der Unterkiefer breit, die weiße Stirn stieß vor. Er ging ein weiteres Stück, blieb wieder stehen und verbeugte sich ein zweites Mal.
    »Nehmen Sie bitte Platz, Präzeptor«, sagte Thomas,

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