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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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oder später. Er ist zu tief verstrickt.«
    »Verstrickt in was?«, fragte Margaret.
    »Ich will Sie warnen. Ich möchte Ihnen helfen, bevor Ihr Vater selbst entdeckt, dass Sie im Auftrag Andrew Whispers gewisse Briefe abgeschrieben haben, Briefe, die nur Ihr Vater lesen durfte…«
    Margaret fühlte, wie das Blut aus ihrem Kopf lief. Ihr wurde schwarz vor Augen, sie setzte sich, lehnte eine Schulter an die Tür und atmete. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht die Sinne zu verlieren. Sie dachte rasend nach.
    »Ich würde nie etwas verraten«, sagte Gills jenseits. »Ich rette Sie… Nur bitte machen Sie sich von diesem Jungen los, solange es noch geht! Ich bin Anwalt, ich kenne diese Dinge sehr genau. Man redet schon. Der Vater und sein Sohn sind schuldig.«
    »Ich glaube Ihnen nicht!«, rief Margaret. Sie war verzweifelt, denn er log bestimmt nicht. Er mochte eifersüchtig sein, aber er war immer ehrlich, solange sie ihn kannte.
    »Ich habe mich erkundigt«, erklärte er. »Der Vater ist ein Ausländer, ein Holländer oder Däne, das ist nicht zu klären. Der Sohn ist undurchsichtig und hat Katzenaugen…«
    Margaret legte ihre Hände an den Kopf, hielt sich die Ohren zu. Und hörte dennoch.
    »Ich weiß, dass er und seine Freunde Rinden und Blätter verbrennen und den Rauch einatmen. Ein Lehrer hat es mir erzählt. Sie essen giftige Pilze, nur um herauszufinden, wie die Wirkung ist. Sie trinken Schnaps und tanzen. Sie stellen schlechte Fragen, und wenn sie über Gott nachdenken, ist es erwiesene Sünde. Ich dagegen habe mich für Sie, Miss Margaret, aufgehoben. Ich nehme diese Dinge ernst. Hören Sie mir zu?«
    »Nein!«
    »Weil Sie noch jung sind. Sie denken, ich sei viel zu streng. Aber ich kann auch lachen, ich lüge nicht und ich bin fromm. Ich jedenfalls verzeihe Ihnen, dass Sie diese Briefe abgeschrieben haben. Der Junge hat Sie sicherlich dazu gezwungen.«
    »Nein!«, rief sie.
    »Ich glaube, doch. Und ich verehre Sie, Miss Margaret. Ihr Vater, Dame Alice, Raspale, Ihre Geschwister, alle Bewohner von Old Barge sind sehr auf meiner Seite. Ich bin nicht arm. Der Käfer, das Geschenk, ist pures Gold!«
    Margaret kämpfte mit den Tränen. Wie dieser Mann sich für sie aufrieb! Wie viele Mädchen an ihrer Stelle wären halb verrückt vor Glück, vor Stolz. Und dennoch war sie von ihm weit entfernt, unendlich weit.
    »Ich gehe jetzt«, rief Gills durch die Tür. »Den goldenen Käfer nehme ich mit. Er ist für Sie, Miss Margaret…«
    Sie hörte, wie er ging. Sie stand auf und öffnete das Fenster, die Luft tat gut. Der Himmel dämmerte. In den Gassen brach sich ferner Lärm. Es roch aus tausend Häusern nach verbranntem Torf, vermischt mit Straßenkot. Ihr Turmgefängnis hatte keine Feuerstelle. Es wurde kühl, sie ließ das Fenster trotzdem offen und legte sich den alten Hausmantel über die Schultern, der Thomas gehörte und vertraulich nach ihm roch. Sie blickte aus dem offenen Fenster, sah eher ihr aufgeregtes Inneres als das Meer der grauen Dächer, als plötzlich etwas lautlos durch die Luft flog, wohl eine Fledermaus, die sich verirrt hatte, durchs Fenster zu ihr in das Zimmer segelte und auf den Boden fiel. Margaret fuhr vor Schreck zusammen und sprang zurück.
    Am Boden lag ein helles, lichtes Ding. Es war Papier, gefaltetes Papier, gefalzt, geformt, mit einer Spitze und mit Flügeln. Sie trat näher, bückte sich, um es genauer zu betrachten. Berührte es aber nicht.
    Es war beschriebenes Papier. Sie konnte Wörter lesen. Sie lief zum Fenster, ob draußen jemand war, der das Papier heraufgeworfen hatte. Niemand.
    Das Papier lag auf dem Boden. Sie hatte eine unbestimmte Angst davor. Sie las Wörter… Hoffnung… Nähe… und plötzlich las sie: Kuss. Sie hob es auf. Es war ein Brief und es war Andrews Handschrift! Die Schrift: war anders, wie verstellt, als hätte er befürchtet, dass seine Nachricht in ein falsches Fenster und in die falschen Hände hätte fliegen können.
    Er habe ihren Brief erhalten, schrieb er, und sende diesen auf demselben wunderbaren Weg zu ihr. Dann las sie etwas, das sie nicht verstand. Er sei erschreckt, dass sie sich in guter Hoffnung wähne. Woher denn, fragte er, wenn so viel Nähe zwischen ihnen nie bestanden habe?
    Margaret las es viermal. Sie verstand es nicht. Hatte Andrew ihren Kuss vergessen? – Der Kuss, schrieb er, ist doch das Schönste, Nächste, Wärmste, das wir teilen. – Ja, gerade!, dachte sie. Sie ging zum Fenster, schloss es, setzte sich an Thomas’

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