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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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wieder tote Dinge fliegen
     
     
     
    Margaret betete, mal laut, mal flüsternd. Sie saß auf einem schmalen, harten Bett, das gegen Mittag von zwei Knechten die Wendeltreppe hochgetragen worden war. Die Sonne schien von Zeit zu Zeit flach in das schmale Fenster gleich zu ihrer Linken. Aber das Licht war schon gebrochen, blutrot, es wirkte kraftlos. Sobald die Wolken sich dazwischen schoben, war es sofort grau und dämmrig.
    Die Stiefmutter hatte Margaret vor einer Weile etwas Brot gebracht, sie in den Arm genommen und war gleich wieder gegangen. Bis zum Morgen würde sie alleine sein, das erste Mal.
    Sie betete das Vaterunser, einen Psalm, ein frommes Lied dazu. Gott solle ihr verzeihen, solle zu ihr reden. Sie verstand die Welt so wenig. Immer wieder fühlte sie den Kuss, den leeren Raum der Kathedrale, Andrews Wärme, während er sie in den Armen hielt, erinnerte das Licht, die fliehenden Geräusche im Kirchenschiff, die Gerüche, Andrews und ihren eigenen Herzschlag, wild vermengt.
    Sie wollte nicht darüber nachdenken, aber die Gedanken hafteten wie Pech. Sie fragte sich nach dem Zusammenhang von Kuss und ihrer Leibessegnung. Sie gab sich alle Mühe, nur fest daran zu glauben, wie man an die Wandlung glaubt und an das Mysterium der heiligen Messe. Aber immer wieder drängte sich die Frage vor, wie es im Körper wirklich zuging. Was war der Kuss im Innern, dass er diese himmlische und wunderbare Wirkung hatte?
    Sie wusste nicht mehr, von wem sie diese halbe Kenntnis hatte. Von älteren Kindern aufgeschnappt, vor endlos langer Zeit, als sie selbst neun oder zehn Jahre alt gewesen war. Was sie beschämte, war die Vorstellung, dass auch die Eltern in irgendeinem Augenblick sich in dieser Weise nah gekommen waren: dass ihr Vater mit derselben Inbrunst ihre Mutter Jane geküsst hatte. Sie schämte sich für Jane, obgleich diese Liebe durch eine Hochzeit von Gott geadelt worden war.
    Wieso war sie fähig, Andrew zu lieben, wenn es verwerflich war? Wieso hat Gott nicht eingerichtet, dass man nur mit seinem Segen lieben kann? Hatte Thomas doch Recht, wenn er sie hier und jetzt umbeugen, zwingen und zu einem Besseren hin erziehen wollte?
    Draußen war es still. Ihre Augen brannten. Sie fühlte innerlich in ihre Hände, in die Haut, die Finger, ging fühlend durch den Arm zur Schulter, fühlte ihren Hals, das Kinn, die Wangen, Augen, Stirn, den Mund, die Zunge, den Schlund und Magen schon, stieg auch bis zum Schoß hinunter, lächelte, fühlte ihre Schenkel, die Waden, Füße, jede Zehe. Sie konnte in sich wandern, immer schon, in ihrer eigenen körperlichen Landschaft, die ihr einerseits sehr fremd war und dennoch nah, als kennte sie dort jeden Muskel, jede Vene, Sehne, jede innere Haut, die Knochen, alles, was dort in ihr war, wo niemals Licht hinfiel und nie ein Menschenauge schaute…
    Jemand klopfte an die Tür. Margaret fuhr erschreckt zusammen.
    »Stiefmutter…?«
    Sie hörte ein Geräusch. Es knirschte. Dann wieder Klopfen.
    »Miss Margaret…?«
    Die Stimme war sehr leise.
    »Miss Margaret! Erschrecken Sie sich nicht! Ich bin es, William Gills…«
    Margaret stand auf und ging zur Tür.
    »Ich habe eine Frage«, hörte sie ihn reden. »Es stimmt doch sicher nicht, dass Sie aus freien Stücken hier oben sind.«
    »Es wurde mir verboten, die Tür zu öffnen«, gab sie zur Antwort, überrascht, dass dieser Mann hier oben war.
    »Ich habe ein Geschenk für Sie, Miss Margaret. Ich lege es auf die Treppe, wenn ich nachher gehe. Oder möchten Sie es sehen?«
    »Ich darf nicht öffnen.« Margaret war froh, dass Gills nicht im Zimmer war. »Auch dann nicht, wenn Sie fort sind. Überhaupt nicht.«
    »Und wenn es jetzt hier brennen würde? Wir tun so, als wäre Feuer ausgebrochen…«
    »Wenn Sie das Geschenk auf der Treppe liegen lassen, wird es die Stiefmutter am Morgen finden. Das will ich nicht.«
    »Es ist ein toter Käfer«, rief Gills halblaut. Er klang entmutigt. »Ich nehme ihn wieder mit.«
    »Ich danke Ihnen trotzdem«, sagte Margaret schnell. Er tat ihr Leid. Ein wenig. Sie horchte. Sie hörte Gills’ Schritte leiser werden. Dann wieder lauter.
    »Sie wissen, dass ich weiß, was ich nicht wissen sollte?«
    Jetzt war er wieder an der Tür.
    Von draußen, durch das angelehnte Fenster, drangen plötzlich ferne Rufe in den Turm, Gelächter, blecherner Lärm, Pfiffe und Gebell.
    »Ich kenne Ihr Geheimnis!«, sagte Gills. »Dem Vater Ihres Freundes geht es schlecht. Er stirbt. Der Sohn wird auch verhaftet, früher

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