die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
glaubst doch nicht ...”
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber ich weiß, dass du Zeit mit Razvin und Coranna verbringst. Alles, worum ich dich bitte, ist, die Augen offen zu halten. Sag Marek, was du erfährst, und er erzählt es mir.” Sie griff nach Rhias Ellenbogen. Ihre Finger fühlten sich wie Klauen an. „Du schuldest Coranna deine Treue. Aber die höchste Pflicht einer Krähe gilt den Toten.” Plötzlich neigte Kerza den Kopf zur Seite. Ihre Nasenflügel blähten sich. „Jemand kommt. Ich muss gehen.”
Sie verschwand sofort, statt zu verschwimmen, wie Marek es bei Sonnenuntergang tat. Rhia spürte, wie ihre Hand sie losließ, und tastete die Luft um sich herum ab. Nichts.
Ihre rein menschlichen Sinne sagten ihr, dass niemand sich näherte, aber sie kroch dennoch in den Abort, als wäre das die ganze Zeit ihr Ziel gewesen. Sie verschloss die Tür, setzte sich dann auf den hölzernen Balken und lauschte.
Wenn Etars Tod absichtlich von menschlicher Hand herbeigeführt worden war statt von der Willkür des Krähenfluges, dann konnte es nicht Rhias Schuld sein. Niemand sprach von Mord je als Willen der Krähe – Krankheit, Unfälle, selbst Kriege konnten das Resultat von übersinnlichen Kräften sein, die außerhalb der Kontrolle eines Einzelnen lagen. Aber Krähe erhob nicht die Hand eines Menschen, um einen anderen zu töten. Etwas anderes zu glauben begnadigte den Mörder als reines Werkzeug der Geister.
Rhia nahm all ihren Mut zusammen und kroch zurück zum Scheiterhaufen. Coranna wartete dort, stumm wie der Stein neben ihr und der Körper, der darauflag.
Als die Sonne im Osten den Horizont zum Glühen brachte, erwachte das Dorf zum Leben. Rhia, die immer noch neben dem Scheiterhaufen wartete, sah, wie ferne Gestalten die Leitern aus ihren Häusern herabließen. Auf ihrem Weg hoben alle, selbst die Kinder, so viele Aste und Zweige auf, wie sie tragen konnten.
Coranna stand am Kopf des Scheiterhaufens, schon in die reinen weißen Zeremonienroben gekleidet, die Marek ihr gebracht hatte. Krähenfedern säumten die Naht an ihren Ärmeln. Sie bedeutete Rhia, die Position am Fußende des Scheiterhaufens einzunehmen.
Die Sonne stieg über die Hügel und überstrahlte mit ihrem orangeroten Leuchten die blassen Fackeln. Coranna stimmte leise ein Klagelied an, während die Kalindonier sich einer nach dem anderen dem Scheiterhaufen näherten, auf die Plattform stiegen und dort einige Augenblicke neben dem Leichnam stehen blieben. Sie sprachen leise Gebete und legten dann das Holz, das sie gesammelt hatten, neben dem Scheiterhaufen ab. Einige legten Blumen oder Kräuter auf Etars Brust.
Die Letzten in der Reihe waren Etars Schwester und seine Kinder. Sie alle trugen kurzes Haar und sahen aus, als hätten sie nicht geschlafen. Kerza vermied es, Rhia in die Augen zu sehen. Die drei legten je eine Eulenfeder auf seiner Brust ab und steckten sie in die Decke, damit sie nicht davongeweht wurden. Dann nahmen sie ihre Plätze ganz in der Nähe ein, wo sie standen, statt zu knien, doch das wohl nur, weil Thera schwanger war.
Coranna streckte der Menge die Arme entgegen. „Wir sind hier versammelt, um den Tod von Etar zu betrauern und sein Leben zu feiern, denn beides soll uns für immer berühren. Nur für uns selbst, nicht für ihn, trauern wir, denn Etar selbst ist auf die andere Seite gereist, in ein neues, herrliches Dasein.” Sie senkte die Arme. „Er war ein weiser Mann, hatte Humor, war gerecht. Sein Dienst im Rat des Dorfes hat zwanzig Jahre gedauert, die meisten davon als sein Anführer, die längste Amtszeit, die uns bekannt ist. Er hat Wege gefunden, die Wünsche unseres Volkes zu erfüllen und dennoch seinem Schutzgeist treu zu bleiben. Wenn ich für alle Ratsmitglieder sprechen darf, sein Dienst war uns Segen und Vorbild zugleich.”
Die anderen Ältesten nickten – auch Razvin. Sein Respekt und seine Trauer hatten etwas Gezwungenes – wenigstens schien es Rhia so -, als bemühte er sich zu sehr darum, zu trauern. Sie konnte Zilus, den Falken, nicht erkennen, und Coranna ... Der Gedanke, dass sie einen Mord begangen haben könnte, war zu schrecklich.
Andere Kalindonier traten vor, um von Etar zu sprechen, seine Weisheit zu preisen und die Lücke, die er hinterlassen hatte, zu beklagen. Sein Sohn Pirrik berichtete von Etars Ergebenheit an seine verstorbenen Frau, die ihm vor sieben Jahren auf die andere Seite vorausgegangen war.
Als Pirrik, blass und unsicher, wieder herabstieg, trat
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