die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Coranna erneut an den Kopf des Scheiterhaufens. „Jetzt lasst uns seiner Seele Geleit singen.”
Sie stimmte den Gesang an, der Krähe herbeirief, so wie ihn Galen bei der Beerdigung von Mayra angestimmt hatte. Rhia schloss sich ihr an, zunächst zögerlich, falls die Worte oder Betonungen von denen ihrer Heimat abweichen sollten, doch dieses Ritual war das gleiche, bis hin zum Rhythmus ihres Atems. Bald erhoben auch die anderen ihre Stimmen in die kalte Morgenluft.
Anders als an dem Tag, an dem sie ihre Mutter zu Grabe getragen hatten, erschien sofort eine Krähe, die immer und immer wieder rief. Rhia sah zu, wie sie tief über den Wald flog und dabei durch Flecken der Morgensonne glitt, die in ihren Federn violett schimmerten.
Für einen Augenblick wünschte sie sich, sie könnte ihr in den Himmel folgen. Dann blickte sie in die dankbaren Gesichter der Kalindonier, der Menschen, die ein Stück ihres Lebens für sie aufgegeben hatten, und sie war sich sicher, dass ihr Platz in dieser Welt war.
28. KAPITEL
A uch wenn sie jetzt nur noch eine Totenwache war, ging die Feier weiter, als hätte sie nie aufgehört, auch wenn die Ausgelassenheit einen merklichen Dämpfer erfahren hatte. Rhia half Coranna und Marek dabei, mehr Holz für den Scheiterhaufen zu sammeln. Vieles war durch den geschmolzenen Schnee feucht und musste per Hand mit den Fackeln getrocknet werden.
Sie legte einen Armvoll trockenes Holz am Fuß des Scheiterhaufens ab und untersuchte die erhabene steinerne Platt-form, auf der er stand. Schmauchspuren zeugten davon, dass hier schon viele Beerdigungen stattgefunden hatten. Insgeheim fragte Rhia sich, wie viele Körper hier schon zu Asche geworden waren. Ihre Gedanken wurden klarer, und sie spürte die Spuren von Seelen, die nach dem Tod ihrer Körper noch nahe an der Erde geblieben waren. Eine von ihnen war besonders nah.
Coranna trat leise neben sie auf die Plattform. „Wir haben jetzt genug Holz. Marek legt noch einen Reservehaufen an, falls die Nacht feucht wird.”
Rhia blickte weiter in Etars Gesicht. „Warum bleiben einige von ihnen hier?”
„Einige warten, weil sie noch etwas zu erledigen haben oder weil sie zu sehr an dieser Welt hängen. Es ist Teil unserer Pflicht als Krähenmenschen, sie zu ermutigen, auf die andere Seite zu treten.”
„Warum ist er geblieben?”
Coranna zögerte. „Vielleicht will er noch sehen, wie sein Enkelkind geboren wird.”
„Ich hoffe, es liegt nur daran.” Rhia wollte über die andere Möglichkeit sprechen – dass er blieb, weil jemand ihn absichtlich aus dieser Welt gestoßen hatte.
„Etar hat noch nicht von der anderen Seite zu mir gesprochen”, sagte Coranna. „Wenn er bleibt, nachdem Thera ihr Kind bekommen hat, werde ich mich mit ihm in Verbindung setzen, um herauszufinden, was seine Seele noch will.”
Rhia zwang sich zu fragen: „Warum nicht jetzt?”
Lange sah Coranna sie an. „Ich brauche Ruhe und besondere Zutaten. Ich führe das Ritual lieber zu Hause durch.”
„Dann morgen? Ich helfe mit allem, was du brauchst.”
Der Blick der Krähenfrau verdunkelte sich. „Morgen, ja.” Rhia deutete auf Etar. „Bleiben sie je für immer?”
„Nein. Das würde Krähe nicht zulassen.” Leicht neigte sie den Kopf. „Die Geduld und das Verständnis unseres Geistes kennt ohnehin kaum eine Grenze.”
Rhia neigte ebenfalls den Kopf und unterdrückte unzählige weitere Fragen.
„Für den Anfang sind wir fertig”, sagte Coranna laut genug, dass Marek es hören konnte. „Geht jetzt und schließt euch der Totenwache an, ihr zwei.”
Rhia trat von der Plattform und drehte sich zu Coranna um. „Kommst du auch?”
„Ich bin gleich da.” Coranna wandte sich wieder dem Scheiterhaufen zu, und die Maske der Gefasstheit fiel von ihr ab.
Als sie außer Hörweite waren, sagte Rhia zu Marek: „Ich habe letzte Nacht mit Kerza gesprochen.” Sie zögerte, wusste nicht, ob sie Marek sagen konnte, dass sie an den Motiven der Wölfin zweifelte. Aber wenn sie dem Mann nicht vertrauen konnte, der gewillt gewesen war, alles für sie aufzugeben, dann stand sie wirklich allein da.
„Ich weiß nicht, wem ich glauben soll”, fuhr sie fort. „Kerza verdächtigt Coranna und Razvin und jemanden namens Zilus.” Er nickte. „Aber warum sollte ich Kerza glauben?”, fragte sie ihn.
„Was sie über den Streit um die Amtszeitbegrenzung sagt, stimmt. Die Ratssitzungen sind öffentlich.”
„Ich habe Coranna gebeten, sich mit Etar in Verbindung zu
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