die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
setzen.” Auf seinen überraschten Blick hin entgegnete sie: „Er ist in der Nähe unserer Welt verblieben. Vielleicht hat er uns noch etwas zu sagen.”
„Ich hoffe es. Coranna muss sehr viele Rituale in sehr kurzer Zeit durchführen. Sie hat dich zum Leben erweckt, und jetzt hält sie die Beerdigung für einen ihrer besten Freunde ...”
„Waren Coranna und Etar eigentlich mehr als nur gute Freunde?”
„Manchmal.” Er sah zu Corannas Gestalt zurück, die weiß in einem Sonnenstrahl glänzte. „Er ist die Person, die ihr seit dem Tod ihrer Tochter am nächsten gestanden hat.”
„Ich wusste nichts von ihrer Tochter.” Ihre Gleichgültigkeit und ihre Verdächtigungen erfüllten sie mit Scham. „Ich habe Coranna nie nach ihr gefragt.”
„Ihnen, nicht ihr. Coranna hatte zwei Töchter, aber nur eine hat lange genug gelebt, um eigene Kinder zu gebären. Die jüngere Tochter ist gestorben, ehe ich geboren wurde, und zwar an irgendeinem Fieber. Die ältere ist im gleichen Feuer gestorben, das auch meine Eltern umgebracht hat. Coranna musste ihren Geist mit allen anderen gemeinsam auf die andere Seite führen.”
Rhia blieb stehen und verdeckte ihr Gesicht mit den Händen. „Dich habe ich auch nie gefragt, wie deine Mutter und dein Vater gestorben sind.”
„Das habe ich auch nicht erwartet. Ich habe auch nicht nach dem Tod deiner Mutter gefragt. Ich dachte mir, du erzählst es, wenn du bereit dazu bist.”
War sie bereit? Bereit, ihren größten Fehler zu gestehen, ihre tiefste Scham? Geduldig sah Marek sie an.
„Was ist mit Corannas Enkeln?”, fragte sie ihn.
„Ihr Schwiegersohn wollte sie mit nach Tiros nehmen, um bei seiner Familie zu leben. Er hat gesagt, er will nicht zusehen, wie die Kinder an diesem gottverlassenen Ort zugrunde gehen.” Marek schüttelte den Kopf. „Das hat Coranna das Herz gebrochen. Sie hätte mit ihm gehen können, aber sie wollte Kalindos nicht verlassen. Das ist mein Zuhause, hat sie gesagt, im Guten wie im Schlechten.”
Rhia sah den nebelverhangenen Wald an und die Kalindonier, die sich um das Lagerfeuer bewegten, und verstand.
Mit vollen Bäuchen und gelöschtem Durst saßen Rhia und Marek in der Nähe des Feuers. Zilus, der Falke, zog die Menge mit Geschichten in seinen Bann, in denen meistens Etar als jüngere und viel weniger weise Eule eine Rolle spielte. Zilus spitzer grauer Bart hüpfte auf und nieder, wenn er die übertriebenen Szenen darstellte, komplett mit verstellter Stimme. Nach kurzer Zeit lachten alle und tranken in Gedenken an Etar. Rhia fand es schwer, zu glauben, dass Etar etwas anderes als Wohlwollen für seinen Kollegen im Dorfrat empfunden hatte, aber vielleicht war das genau der Eindruck, den er hatte vermitteln wollen.
Als die Schatten im Wald länger wurden, wurde Zilus ernst, und viele der Kalindonier beugten sich vor.
„Ist das ein besonderer Teil?”, flüsterte Rhia Marek zu.
„Er hört immer mit der Geschichte über die Nachfahren auf. Er mag es, zum Abschluss noch einmal dramatisch zu werden.”
Rhia kannte die Geschichte, war aber gespannt darauf, wie sie von den Kalindoniern erzählt wurde.
„Vor langer Zeit”, sagte Zilus, „waren alle Völker der Welt eins. Jeder hatte Tiermagie, wie wir in Kalindos sie haben, wie das Volk in Asermos sie hat”, er deutete auf Rhia, „und die Völker in Tiros und Velekos. Wir haben friedlich gehandelt und kaum gekämpft, es sei denn, es ging um die Liebe.” Er stieß die ältere Frau neben sich an, die lachte und ihn ebenfalls anschubste.
„Aber eines Tages”, fuhr Zilus fort, „ist eine Gruppe Fischer südlich von Velekos von einem furchtbaren Sturm erfasst worden, der sie über das südliche Meer getragen hat, den ganzen Weg bis ans andere Ufer. Als die Wolken sich lüfteten, fielen die Männer auf das Deck ihres Schiffes hinab und priesen die Geister, dass sie ihre Leben verschont hatten. Dann standen sie auf.”
Er hielt inne und sah den Kindern ins Auge, einem nach dem anderen. „Was, denkt ihr, haben sie gesehen?”, fragte er und zog dabei jedes Wort in die Länge.
Rhia kannte die Antwort: ein goldenes Ufer nahe der Mündung eines breiten Flusses, ein Land, wo das Wetter immer warm war, ein Paradies, unberührt von Menschen – wenn auch nicht für lange.
„Was sie sahen”, sagte Zilus, „war eine strahlende Stadt an einem goldenen Ufer, eine Stadt mit Gebäuden aus weißem Stein, die die Sonne so strahlend spiegelten, dass es wehtat, sie anzusehen. Eine Stadt, die
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